Geographica Helvetica1996
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Nr. 2 Martin LendiFöderalismus
und
Regionalpolitik
Die Schweiz ist bekanntlich ein Bundesstaat, geprägt durchden Föderalismus. DieRegionalpolitik muß sich mit ihm auseinandersetzen.WasbedeutetderFöderalis¬
musfürdie Regionalpolitik? Istder Föderalismus«Ge¬ genstand» oder «Voraussetzung» der Regionalpolitik?
Am BeispielderSchweiz läßtsichverdeutlichen,wiesich
FöderalismusundRegionalpolitik zueinanderverhalten.
Dieföderalistisch konzipierte Schweiz
Der schweizerische Bundesstaat, auch Schweizerische
Eidgenossenschaft genannt, gliedertsich
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derFödera¬ lismusstrukturiert-
indenBund,in26 Kantone unddar¬ überhinausin rund 3000 Gemeinden.DieKantonebe¬ haupten von sich, sie seiensouverän. DieBundesverfas¬ sungunterstreichtdies, wennauch mitVorbehalten (Art.3 BV). Die Gemeinden beanspruchen zusätzlich einen hohen Grad anAutonomie. Dessenungeachtet konzen¬
triert sich die Aufgabenfülle in steigendem Maße beim Bund. Wichtige öffentliche Funktionen sind ihm anver¬ traut, so die Außen-und Sicherheitspolitik, aber auch große Teile derVerkehrs-, Umwelt-, Sozial-undFinanz¬
politik. Für die Kantone stehen die Kultur-,
Raumord-nungs-, Gesundheits-,Straßenbau-und Steuerpolitikso¬ wiedasPolizeiwesen imVordergrundwie auch derVoll¬ zug der Bundesgesetzgebung, zumalderBund
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inwich¬ tigen Bereichen-
nichtübereineeigeneVöllzugsverwal-tung verfügt.
Die föderalistisch konzipierte Schweiz ist gleichzeitig
Rechtsstaatund Demokratie;sieistderMarktwirtschaft,
der sozialen VerantwortungunddemSchutzdesLebens sowie der Lebensvoraussetzungen zugetan. Dahinter
steht eine gemeinsame Verpflichtung:Wahrung und Ent¬ faltungderKulturineinemvielfältiggeprägten Gemein¬ wesen.
Föderalismus undRegionalpolitik
Über diesendifferenziertagierenden,föderalistischkon¬
zipiertenStaat legtsichnuneineRegionalpolitik,welche sich strukturschwacher Gebiete annimmt, imbesonde¬ ren dasBerggebiet fördert, periphere Räume stützt,zen¬
tralörtliche Lasten der Städte mindert und hinter allem die Aufgabe sieht, den Finanzausgleich so zukonzipie¬
ren, daß die problembeladenen Teilräume(Agglomera¬
tionen, Grenzgebiete usw.) ihre Hausaufgaben erfüllen
können. Raumordnungs- und umweltbezogene Aufga¬ ben werden zusätzlich damit verbunden.
«Föderalismus»und«Regionalpolitik»müssenauseinan¬ dergehalten werden. Beide sind vieldeutig. Dennoch,
diessei vorweggenommen, gibtes eineGemeinsamkeit: Sowohl die Regionalpolitik als auch der Föderalismus
befassen sich mit Teilräumen, die alsbedeutsam fürdas Ganzeanerkanntundgefördertwerden.Trotzdemunter¬ scheidensiesichprinzipiell: WährendderBegriffdesFö¬ deralismus eng mit demjenigen des Bundesstaatesver¬ bunden ist, giltdiesnicht fürdie Regionalpolitik. Sogar
Zentralstaaten
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wie Frankreich-
oder internationale Gemeinschaftenohne Staatsverfassung-
sodieEU und inderen RahmendieEG(Art. 130cff.sowie Art.198aff.EGV)
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kennen einebreit angelegteRegionalpolitik. Sie ist also nicht fürföderalistischeStaaten typisch, sondern findetsichüberall,woteilräumliche Funktionenbeachtet werden. Immergeht es darum, den Regionen einenge¬ wissen Eigenwert zuzuerkennen,dasihnen eigene Poten¬ tialzu entwickeln, ihr wirtschaftliches Wohlergehen zufördernund interregionale Disparitäten abzubauen.In¬ sofern wohnt jeder Art von Regionalpolitik
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selbst inZentralstaaten
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ein gewisses «föderatives» Elementin-ne. Aufder andernSeite sehen die Bundesstaatenimfö¬ derativen Element vorweg die politische Aufgabe, die staatliche Macht zu dezentralisieren, bürgernahe Ge¬
bietskörperschaften
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Gliedstaaten-
öffentlicheAufga¬ benversehenzu lassenund sieandergesamtstaatlichen Willensbildung zu beteiligen. Vereinfacht kann mansa¬ gen, das föderative Element sei staatsrechtlich undstaatspolitisch angelegt,das regionalpolitische sei eher
wirtschaftlich undlebensraumbezogen ausgerichtet.
DasSubsidiaritatsprinzip
Föderalismus und Regionalpolitik werden durch einen
dritten Begriffzusätzlich belastet: Subsidiarität. Vorweg inder EUistdavondieRede(Art.3bEGV).DerBegriff
wurde hier wohl deshalb gewählt, weilsich dasWort «Fö¬ deralismus» nicht ohne weiteres ins Englische überset¬ zen läßt. Indieser Sprache bedeutetesnämlichgenaudas Gegenteil der deutschsprachigen Sinngebung, indem es
aufdiezentraleMachtundnichtaufdie Gliedstaatenver¬ weist.
Martin Lendi, Prof. Dr., o. Prof.fürRechtswissenschaft, ETH Zentrum,8092Zürich
Für die Schweiz schließt das Subsidiaritätsprinzip zwei zentrale Aussagenein,nämlich:
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erstens-
der Staatsoll nurjene AufgabenandieHand nehmen, welchedieWirt¬schaftnichtbewältigenkann,und
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zweitens-
derBund soll die öffentlichen Aufgaben, soweites verantwortbar ist,aufdie Gliedstaatenmit dem ZielderProblemlösunganOrt und Stelle übertragen oderbeiihnen belassen,un¬ terInkaufnahmeeiner wenigereffizienten,dafür aberde¬
mokratisch legitimierten Aufgabenbewältigung. Der Vertrag von Maastricht vernachlässigt den ersten Ge¬
sichtspunkt,und unter dem zweiten siehter dasSubsidia¬
ritätsprinzip in Nuancen anders, nämlich ausgerichtet aufEffizienzkriterien.
Zieleder Regionalpolitik, Zieledes Föderalismus
Fürden Föderalismussind dieZiele leichterzubestim¬ men alsfürdieRegionalpolitik.Da dieföderativenstaats¬
rechtlich und staatspolitisch geprägt sind, sind sie von
dorther faßbar. Esgeht
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abwehrend-
umMachtteilung innerhalbdes Staates, um Gegengewichte gegenüberei¬neregalitären Mehrheitsdemokratie,sodannaber
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posi¬ tiv-
um die kulturelle, politische und gesellschaftliche Differenzierung als kraftvolle Basis einesmenschenna¬ hen politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellenLebens. Die Regionalpolitikkann zum Anliegender so¬
ziokulturellen Vielfaltja sagen; imübrigenabersuchtsie die regionale Wettbewerbsfähigkeit und den Ausgleich
der räumlichen Entwicklungsunterschiede, stets unter
Ausschöpfung und Stärkung der regionalen Potentiale. ObderAkzentfürdieRegionalpolitikeher
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zukunftsge-richtet-
aufder Förderungder endogenen Kräfteoder -ausgehend von dem, was war-
aufden Unterschiedender Vergangenheit beruht, isteine Frage desFunktions¬
verständnisses der Regionalpolitik. So oder so kommt
aberderRegionalpolitikdie föderative Zielsetzungent¬ gegen. Dort,wo sie imStaatsverständnis fehlt, muß sich die Regionalpolitik mit Fragen der teilräumlichenGlie¬ derung intensiver befassen als in Bundesstaaten. So
kommtesnichtvonungefähr,daß innerhalbderEU und
inZentralstaaten die«Regionalisierungsdebatte» imZu¬ sammenhangderRegionalpolitikeinenhöheren Stellen¬ wert hat als in Bundesstaaten.
AusprägungderRegionalpolitik imföderativen Staat Gemäß der Schweizerischen Bundesverfassung kommt, wiewir zeigen konnten,demFöderalismuseinehoheBe¬ deutung zu. Er ist Teil der Verfassung und gibt dem schweizerischenStaatStruktur (Art.3,89, 121 BV). Für die Regionalpolitikgilt diesnicht im gleichen Sinn. Sie muß deshalb aufdie vorgegebene StaatsstrukturRück¬ sicht nehmen. Außerdem hat sie unter Beachtung der
Wirtschaftsfreiheit (Art.31 BV) damit umzugehen, daß diestaatlichen Möglichkeitender Einflußnahme aufdie wirtschaftliche Entwicklung begrenzt sind. Aufder an¬ dernSeitekommt ihrdie staatspolitische Zusage entge¬
gen, daß Aufgaben auch dann auf unterer Stufe in den
Teilräumen zuerfüllen sind, wennsie zwar weniger effi¬ zient angegangen werden, dafür aberan Ort und Stelle sachgerechte Lösungen ermöglichen, die demokratisch akzeptiert sind.
Mit Rücksicht aufdie staatsrechtlichen Vorgaben bleibt
inderSchweiz für einen(blinden) RegionalismusderBil¬ dung neuer Regionen wenigbiskeinRaum.DasZusam¬
menführen von einzelnen Gebietskörperschaften oder die zusätzliche territoriale Neuorganisation inRichtung
einer «Gebietsreform» haben selten odergarkeineChan¬
ce. Die historisch gewordene Gebietseinteilung domi¬ niert. Ebenso kann die Regionalpolitik aus eigenem
Sachpotentialheraus nur begrenzt wirken,daihreMittel, Instrumente und Maßnahmen limitiert sind. Nicht¬ marktwirtschaftliche Maßnahmen stehen ohnehin nur begrenzt zur Disposition (Art. 31bis BV). Sie muß sich deshalb vorwegals«Querschnittsaufgabe» verstehen und ihre Strategien und Konzepte derart einbringen,daß die inregionalpolitisch relevanten Belangensachkompeten¬
tenStaatsorgane desBundes, der Kantone und der Ge¬ meinden«regionalpolitischsinnvoll» agieren undden in¬ neren Kräften der Regionen Auftrieb verleihen.
Raum-ordnungs-, Verkehrs-, Steuer- undFinanzausgleichs-,Ar¬
beitsmarktpolitik usw. müssen sich zusammenfinden,
umregionalpolitisch wirksamzuwerden. Bund,Kantone
und Gemeinden sind gehalten, sich dabei
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durchge¬ hend, vertikal undhorizontal-
die Handzu reichen.Regionen
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am Beispielderföderativen SchweizDie gebiets- und bevölkerungsmäßig relativ kleine Schweizmit ihrerdifferenzierten föderalistischenStaats¬
struktur tut sich, wie nicht anders zu erwarten, schwer mit einerzusätzlichen regionalenEbene. Europaweitbe¬ trachtet ist sieohnehin nicht mehr alseine Region. Die Schweizzählt beispielsweise weniger Einwohneralsdas deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Innerhalb
derKantone, die vonunterschiedlicher Größe sind, läßt sichnurineinigen wenigen größerenKantonen (Zürich,
Bern, Waadt,Graubünden,Wallis) daran denken, Regio¬ nen auszuscheiden; aber auch hier würde eine vierte Staatsebene (Bund, Kantone, Regionen, Gemeinden)
mehr Probleme schaffen als lösen.
Trotzdem wirddie regionaleBetrachtungsweise gepflegt undin Sonderfragen auch umgesetzt. Ein besondersat¬ traktives Beispiel bildetderVerkehrsverbund Zürich,der vom Kanton in Zusammenarbeit mit den SBB und den
berührten Gemeindengetragen wird. Umgekehrt istfür die Agglomeration Zürich, die in die Kantone Aargau, Zug, Schwyz, Thurgau und St.Gallen hineinreicht, bis heute keine Trägerschaft gefunden worden. Die Bergge¬
bietsregionen sind inder Regelkantonsinterneingebet¬ tet; alshoheitlich agierende Gebietskörperschaften sind sieaber nicht organisiert.
Aufder
andern Seite werdenunendlich viele interkommunale Belange (Abwasser, Wasserversorgung, Pflegeheime, Altersheime usw.)und
interkantonale Aufgaben (Fachhochschulen,
tungen des Gesundheitswesens, Energieproduktion
usw.) alsregionale durchöffentlich-oderprivatrechtliche Zweckverbände erfüllt, die sich in der Regel auf zwi¬
schengemeindlicheresp.interkantonale Vereinbarungen stützen.
ImVerlaufderJahrzehntehatesimmerwiederEntwürfe
fürRegionsbildungengegeben, seiesaufüberkantonaler
Stufe, sei es aufder Ebene zwischen Kanton und Ge¬ meinden, doch sind sie allean dendurch die föderative
Staatsverfassung politikwirksamen Kantonen und Ge¬ meinden angestoßen. DerenAufgaben-undKompetenz¬
fülle setzt den Regionen von vornherein Grenzen. Das markanteste Beispielentwickelte eineNeueinteilungdes Bundes invier Regionen, unterVerzichtaufdie 26Kan¬ tone. Diesistaber ineinemtraditionsreichen föderalisti¬
schenLand nicht realisierbar
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undauchnicht nötig. DieKantoneund Gemeindensindinder Lage,regionalpoli¬
tische Anliegen aufzugreifen und umzusetzen, nötigen¬ fallsinKooperation mit dem Bund.
Föderalismus:
Gegenstand oder Voraussetzung derRegionalpolitik? Föderalismus und Regionalpolitikbilden nachdemGe¬ sagten keinen sich ausschließenden Gegensatz. Es gilt aber zu beachten: Die Regionalpolitik nimmt in einem
föderativ verfaßten Bundesstaat mit marktwirtschaftli¬
cherAusrichtungandere, begrenztere Aufgaben wahrals in einemZentralstaat und/oderineinem Staat mit einer betont staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik. Die ab¬ strakteFrage nach dem VerhältnisvonFöderalismusund
RegionalpolitikkanninderTheoriegestellt undvon den Zielen und der Funktion her auch mindestens annähe¬ rungsweise beantwortet werden. Sie verliert aber an Schärfeund Grundsätzlichkeitunterden konkretenGe¬ gebenheiten eines Staates. ImBundesstaat mit einerver¬ faßten föderativen Ordnung wird die Regionalpolitik
-faktischund praktisch-
auf dieser aufbauen undsiemit¬ hin alsgegebeneVoraussetzung erfassen, währendsie imZentralstaat und im Staat der zentral gelenkten Wirt¬
schaftdieteilräumliche Gliederung
(Regionalisierung)-nichtnur organisatorisch
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alskonkreten Gegenstandih¬ rer Bemühungen sehen muß,im Bewußtsein,daß dieserAspektraschstaatspolitische Dimensionen annimmt,da das Problem der innerstaatlichen Gliederungden Staat inseinem Verständnis trifft.
Dielexikonhafte DefinitionderRegionalpolitikalsPoli¬ tik der Berücksichtigung unterschiedlicher Vorausset¬ zungen und Möglichkeitendereinzelnen Teilgebiete zur
Entfaltung wirtschaftlicher und politischer Aktivitäten
mag allgemeingültigklingen;sieverschließtaberdieAu¬ gen vor der politischen Brisanz des Ansprechens von Teilräumen. Selbstredend kann die Regionalpolitik mit
unterschiedlich definierten Regionen diesseits der recht¬ lich strukturierten innerstaatlichen Gliederung agieren, dochmitdemVorstoßindieTeilräumelassen sichpoliti¬
scheWeiterungen nichtvermeiden. Übersieentscheidet letztlich nicht die Regional-, sondern die Staatspolitik.
Staatspolitikund Regionalpolitik
Weder ersetzt der Föderalismus die Regionalpolitik,
noch entbindetdie Regionalpolitikdie Staatspolitik von der Auseinandersetzung mit den innerstaatlichenTeil¬ räumen. Die Regionalpolitik tut deshalbgut daran, mit derStaatspolitikinengemKontaktzubleiben, wie umge¬ kehrtdieStaatspolitikdavon lebt,daß die«Teilräumedes Staates» kulturell, politisch, wirtschaftlich,gesellschaft¬ lich und ökologisch so gesund und stark sind, daß der Staat insgesamtseine Kohärenz und Identität findet.
Literaturhinweise
HERZOG, R. (1987): Subsidiaritätsprinzip, Evangelisches Staatslexikon,3. A., S.3750f.
LENDI,M.(1984):Schweizerische Regionalpolitik. In:Recht undPolitikder Raumplanung, Zürich,S. 217ff.(siehe auch ZBI 84/1983.S.241 ff).
LENDI, M. (1995): Le principede subsidiariteau sein dela Federation suisse. In: EUREC (Europäische Zeitschrift für Regionalentwicklung) 2/95,S. 22ff.
OSSENBÜHL,F.(Hrsg.)(1990):FöderalismusundRegiona¬
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SCHINDLER, D. (1992):Schweizerischerundeuropäischer Föderalismus,ZBI 5/92,193ff.
SCHWEIZERISCHER BUNDESRAT(1996): Botschaft über die Neuorientierung der Regionalpolitik, Bern (imErschei¬ nen).
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