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Veranstaltungsreihe des Verwaltungsgerichts Freiburg

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Academic year: 2023

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Torben Struthoff Richter

Verwaltungsgerichtliche Praxis

Veranstaltungsreihe des Verwaltungsgerichts Freiburg

4. Besprechungsfall 18. März 2017

„Streit um zeitgenössische Wohnhausarchitekur“

(Nachbarschutz, Bauplanungsrecht, Befreiung, Teilbarkeit einer Baugenehmigung) N ist Eigentümer des (noch) unbebauten Grundstücks an der Ecke der W-Straße zur A-Straße (Flurstück-Nr. 3100/2). B ist Eigentümerin der östlich und nordöstlich angrenzenden Grundstücke Flurstück-Nrn. 3100/3 und 3100/1 (Abbildung 1). Das Landratsamt X erteilte B eine Baugenehmigung für den „Neubau von zwei Mehrfamilienhäusern mit je 8 Wohneinheiten“ auf den Grundstücken Flurstück-Nr.

3100/3 (Wohnhaus 1) und Flurstück-Nr. 3100/1 (Wohnhaus 2).

Baugrenze (gestrichelt)

Umfang Wohnhaus 2

Baugrenze (gestrichelt)

Umfang Wohnhaus 1

Abbildung 1

Der qualifizierte Bebauungsplan (Abbildung 2), in dem die Grundstücke liegen, setzt eine offene Bauweise sowie die Anzahl an Vollgeschossen mit „I+D“ (1 Vollgeschoss und 1 Dachgeschoss) fest. Für jedes der im Gebiet des Bebauungsplans liegenden Grundstücke sind im zeichnerischen Teil des Bebauungsplans Baugrenzen festgesetzt, die im gesamten Plangebiet in einer ähnlichen Weise auf den Grundstücken positioniert sind. In den Ausführungen zur Begründung des Bebauungsplans heißt es:

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„Auch hat sich als ungünstig herausgestellt, dass Baulinien und keine Baugrenzen vorhanden waren. Auch hier soll im Rahmen der Bauauflage eine Änderung erfolgen. Die neuen Festsetzungen des Bebauungsplans sind in den textlichen Festsetzungen zum Bebauungsplan enthalten“.

Im Übrigen sind keine weiteren Ausführungen zu der Festsetzung der Baugrenzen oder der Anzahl der Vollgeschosse in der Begründung oder den weiteren Unterlagen zum Bebauungsplan enthalten. Sowohl das Wohnhaus 1 auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3 als auch das Wohnhaus 2 auf dem Grundstück Flurstück-Nr.

3100/1 überschreiten die festgesetzten Baugrenzen zum Teil erheblich (Abbildung 1).

Ebenso wird die festgesetzte Anzahl der Vollgeschosse überschritten. Das Landratsamt X hat der B für die Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen, nicht jedoch für die Überschreitung der festgesetzten Anzahl der Vollgeschosse eine Befreiung erteilt.

Abbildung 2

N hat fristgerecht Widerspruch gegen die erteilte Baugenehmigung eingelegt. Zur Begründung trägt er die schon im Rahmen der Nachbarbeteiligung vorgetragenen Argumente vor. So sei zum einen die erteilte Befreiung rechtswidrig. Die festgesetzten Baugrenzen seien als Grundzug der Planung anzusehen. Dies ergebe sich aus der Begründung des Bebauungsplans und der gleichmäßigen, mittigen Festsetzung der Baugrenzen im gesamten Plangebiet. Nach Aussage des Landratsamts X entstehe daher ein gradliniges und doch aufgelockertes Bild der Bebauung und somit eine einheitliche Strukturierung des Ortsbilds. Dieser Grundzug der Planung sei auch noch nicht überholt bzw. obsolet geworden, selbst wenn die Baugrenzen im gesamten Plangebiet öfters überschritten würden, da noch die überwiegende Zahl der vorhanden Gebäude im Plangebiet bzw. in unmittelbarer Umgebung der Vorhabengrundstücke die festgesetzten Baugrenzen einhalte. Auch das Landratsamt X gehe selbst davon aus, dass die festgesetzten Baugrenzen trotz der vorhandenen Abweichungen im Plangebiet noch nicht obsolet geworden seien. Der Grundzug der Planung sei durch die erteilte Befreiung auch berührt. Das geplante Wohnhaus 1 überschreite zumindest

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die auf dem Flurstück-Nrn. 3100/3 festgesetzte westliche Baugrenze zu seinem Grundstück über eine Länge von ca. 16 m um ca. 4 m ebenso wie das geplante Wohnhaus 2 die auf dem Flurstück-Nrn. 3100/1 festgesetzten Baugrenzen teilweise überschreite. Er könne sich auch darauf berufen, da die festgesetzten Baugrenzen (zumindest auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3) seinem Grundstück gegenüberliegen würden. Eine vom Landratsamt X behauptete rein städtebauliche Zielsetzung lasse sich allein aufgrund der mittigen Positionierung aller Baufenster im Plangebiet nicht erkennen.

Des Weiteren berücksichtige die Befreiung nicht ausreichend seine nachbarlichen Belange, da die dreigeschossigen Wohnhäuser mit je acht Wohneinheiten die Besonnung, Belichtung sowie Belüftung seines Grundstücks beinträchtige, selbst wenn die geplanten Wohnhäuser die vorgeschriebenen Abstandsflächen (davon ist vorliegend auszugehen) einhalten würden. Darüber hinaus hätten die geplanten Wohnhäuser, auch wenn die geplanten Geschosse gestaffelt angeordnet seien, eine erdrückende Wirkung auf sein Grundstück.

Zum anderen würden die geplanten Wohnhäuser die im Bebauungsplan festgesetzte Anzahl der Vollgeschosse überschreiten, so dass auch aus diesem Grund die erteilte Baugenehmigung rechtswidrig sei. Selbst wenn er sich nicht auf einen solchen Verstoß berufen könnte, seien jedenfalls seine nachbarlichen Belange in Bezug auf die Besonnung, Belichtung und Belüftung betroffen. Zudem gehe eine erdrückende Wirkung von den dreigeschossigen und ca. 9 m hohen Wohnhäusern auf sein Grundstück aus, selbst wenn diese die umliegenden Nachbargebäude nicht überragen.

Aufgabe:

Als die Bauarbeiten beginnen, beantragt N vorläufigen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht. Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?

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L ö s u n g s s k i z z e

Vorbemerkung: Der Fall ist dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 24.01.2019 - 3 K 6295/18 - nachgebildet.

Der Antrag des N hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg

Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet. Nach allen zur Abgrenzung der öffentlich-rechtlichen von der privatrechtlichen Streitigkeit vertretenen Theorien steht hier eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Rede, die nichtverfassungsrechtlicher Art ist und keinem anderen Gerichtszweig zugewiesen ist.

II. Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs

Die der B erteilte Baugenehmigung ist ein Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Für B, die bauen darf, ist er begünstigend, für N als Nachbarn stellt er sich demgegenüber als (mögliche) Belastung dar. In Betracht kommt daher allein ein Antrag des N auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs, den er bereits fristgerecht eingelegt hat, gemäß §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO gegen die der B erteilte, kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 212a Abs. 1 BauGB) sofort vollziehbare Baugenehmigung (vgl. Dürr/Leven/Speckmaier, Baurecht Bade- Württemberg, 16. Aufl. 2018, Rn. 347 ff.).

III. Antragsbefugnis

Es besteht vorliegend zumindest die Möglichkeit, dass die erteilte Baugenehmigung durch einen Verstoß gegen möglicherweise nachbarschützende Festsetzungen im Bebauungsplan (Baugrenze und Anzahl der Vollgeschosse) den N in eigenen Rechten verletzt (§ 42 Abs. 2 VwGO entsprechend).

Anmerkung: Eine Prüfung an dieser Stelle, ob die Festsetzungen des Bebauungsplans nachbarschützend sind, ist zwar möglich, aber aufgrund der geringen Anforderung an die Antragsbefugnis im Rahmen der Möglichkeitstheorie nicht unbedingt sinnvoll.

IV. Antragsgegner, Antragsfrist

Antragsgegner ist gem. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO das Land Baden-Württemberg als Rechtsträger des Landratsamts X, das hier als untere Baurechtsbehörde tätig geworden ist (§ 46 Abs. 1 Nr. 3 LBO, § 15 Abs. 1 Nr. 1 LVG). Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nicht fristgebunden.

V. Vorheriger Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde

Es ist fraglich, ob im Hinblick auf die Verweisung in § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO auf

§ 80 Abs. 5 bis 8 VwGO ein Eilantrag bei Gericht nur zulässig ist, wenn zuvor erfolglos ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an die Behörde gestellt wurde. Dies ist zwar

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streitig. § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO ist aber wohl nur als Rechtsgrundverweisung anzusehen, so dass § 80 Abs. 6 VwGO auch insoweit lediglich für Abgabensachen gilt. Nach überwiegender Meinung ist daher vor dem Antrag bei Gericht trotz der Verweisung in § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO auch auf § 80 Abs. 6 VwGO kein vorheriger erfolgloser Aussetzungsantrag bei der Behörde erforderlich (Schenke, in:

Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80a Rn. 21).

VI. Beiladung

B ist als Inhaberin der Baugenehmigung nach § 65 Abs. 2 VwGO notwendig beizuladen, da sie als Dritte an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt ist, dass die gerichtliche Entscheidung auch ihr gegenüber aus Rechtsgründen nur einheitlich ergehen kann.

Zwischenergebnis: Der Antrag des N auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs ist zulässig.

B. Begründetheit des Antrags

Nach § 80 Abs. 5 VwGO (i. V. m. § 80a Abs. 3 VwGO) hat das Gericht eine eigene Interessenabwägung vorzunehmen, deren Ergebnis regelmäßig durch die Erfolgsaussichten der Hauptsache nach summarischer Prüfung determiniert wird (vgl.

Dürr/Leven/Speckmaier, Baurecht Bade-Württemberg, 16. Aufl. 2018, Rn. 347 ff.). Hat der Widerspruch des Antragstellers Aussicht auf Erfolg, überwiegt sein Aussetzungsinteresse regelmäßig das Interesse der Bauherrin an der Ausnutzung der Baugenehmigung und das gesetzliche Vollzugsinteresse (vgl. § 212a Abs. 1 BauGB).

Bleibt der Widerspruch des Antragstellers aber aller Voraussicht nach ohne Erfolg, überwiegt regelmäßig das Interesse der Bauherrin an der Ausnutzung der Baugenehmigung sein Aussetzungsinteresse.

Ein (Anfechtungs-)Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt wie eine Baugenehmigung kann aber nur dann Erfolg haben, wenn der Verwaltungsakt objektiv rechtswidrig und der Widerspruchsführer bzw. Antragsteller/Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Für den Erfolg eines Nachbarwiderspruchs (bzw. einer Baunachbarklage) - wie hier - ist es danach anerkanntermaßen nicht ausreichend, wenn ein Bauvorhaben (nur) objektiv-rechtlich rechtswidrig ist. Vielmehr muss hinzukommen, dass das Bauvorhaben gegen Vorschriften verstößt, die auch dem Schutz des Nachbarn und nicht allein öffentlichen Interessen dienen (siehe u. a. BVerwG, Beschl. v. 16.08.1983 - 4 B 94.83 -, juris;

Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 113 Rn. 24 ff.). Fraglich ist daher, ob die Baugenehmigung für das geplante Vorhaben gegen den N schützende, öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt.

Anmerkung: Eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der geplanten Wohnhäuser kann auch getrennt erfolgen (so auch geschehen im Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 24.01.2019 - 3 K 6295/18 -, dem der Fall nachgebildet ist). Zur Vermeidung von Wiederholungen und zu besseren Übersichtlichkeit ist davon vorliegend aber abgesehen worden.

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I. Verstoß gegen die festgesetzten Baugrenzen

In bauplanungsrechtlicher Hinsicht beurteilt sich das genehmigte Bauvorhaben, das unproblematisch eine bauliche Anlage (zum Begriff der baulichen Anlage:

Dürr/Leven/Speckmaier, Baurecht Baden-Württemberg, 16. Aufl. 2018, Rn. 90 f.) darstellt, nach §§ 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 BauGB in Verbindung mit den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans.

Der qualifizierte Bebauungsplan (Abbildung 2), in dem die Grundstücke liegen, hat sowohl für das Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3 als auch für das Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 Baugrenzen und damit ein Baufenster festgesetzt (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 BauNVO). Sowohl das Wohnhaus 1 auf dem Grundstück Flurstück-Nr.

3100/3 als auch das Wohnhaus 2 auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 überschreiten diese festgesetzten Baugrenzen (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO). Es liegt auch keine nur geringfügige Überschreitung i. S. v. § 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO vor). Allerdings hat das Landratsamt X der B für diese Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt. Fraglich ist jedoch, ob diese Befreiung rechtmäßig erteilt worden ist.

Anmerkung: Der § 31 Abs. 2 BauGB ist eine Ermessensvorschrift („kann“). Vorliegend hat das Landratsamt X als untere Baurechtsbehörde von diesem Ermessen dahingehend Gebrauch gemacht, dass es der B eine Befreiung erteilt hat.

Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (zu den Voraussetzungen:

Dürr/Leven/Speckmaier, Baurecht Baden-Württemberg, 16. Aufl. 2018, Rn. 133ff.).

1. Grundzüge der Planung nicht berührt

Zunächst dürften durch die erteilte Befreiung die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Die Beantwortung der Frage, ob Grundzüge der Planung berührt werden, setzt einerseits die Feststellung voraus, was zum planerischen Grundkonzept gehört und andererseits die Feststellung, ob dieses planerische Grundkonzept gerade durch die in Frage stehende Befreiung berührt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.11.2010 - 4 C 10.09 - und v. 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, jeweils bei juris; VGH BW, Urt. v. 25.09.2018 - 5 S 978/17 - und v. 15.09.2016 - 5 S 114/14 -, jeweils m. w. N. bei juris).

a) Grundzug der Planung

Fraglich ist daher, ob es sich bei der Festsetzung der Baugrenzen im Bebauungsplan um einen solchen Grundzug der Planung handelt.

Die Grundzüge der Planung bilden die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption. Es scheiden daher im allgemeinen Abweichungen von Festsetzungen aus, die die

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Grundkonzeption des Bebauungsplans berühren, also vor allem den Gebietscharakter nach der Art der baulichen Nutzung und - in bestimmter Weise - auch nach dem Maß der baulichen Nutzung sowie den Festsetzungen zur Baudichte (Bauweise, überbaubare Grundstücksfläche). Befreiungen können aus diesen Gründen nur in Betracht kommen, wenn durch sie von Festsetzungen abgewichen werden soll, die das jeweilige Planungskonzept nicht tragen, oder wenn die Abweichung von Festsetzungen, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sind, nicht ins Gewicht fallen. Die Befreiung darf das planerische Konzept, das den Festsetzungen des Bebauungsplans zu Grunde liegt, nicht verändern. Die Befreiung darf in solchen Fällen auch nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen lassen. Je tiefer die Abweichung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der (Um-)Planung möglich ist (vgl. Söfker, in:

Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 131. EL Oktober 2018, § 31 Rn. 35 ff.; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 13. Aufl. 2016, § 31 Rn. 29).

Ob es sich bei einer Festsetzung um einen Grundzug der Planung handelt, kann sich zunächst aus der Begründung bzw. aus den weiteren Unterlagen der Gemeinde zum Bebauungsplan ergeben. Die Begründung zum Bebauungsplan sowie die weiteren Unterlagen sind vorliegend insoweit aber unergiebig. In der Begründung des Bebauungsplans heißt es lediglich:

„Auch hat sich als ungünstig herausgestellt, dass Baulinien und keine Baugrenzen vorhanden waren. Auch hier soll im Rahmen der Bauauflage eine Änderung erfolgen. Die neuen Festsetzungen des Bebauungsplans sind in den textlichen Festsetzungen zum Bebauungsplan enthalten.“

Aus diesen Ausführungen lässt sich kein eindeutiger Wille des Plangebers bzgl. der Einordnung der Baugrenzen als Grundzug der Planung ableiten. Im Übrigen sind keine weiteren Ausführungen zu der Festsetzung der Baugrenzen, die auf einen bestimmten Willen der Gemeinde hindeuten könnten, in den Unterlagen enthalten.

Ob es sich bei einer Festsetzung um einen Grundzug der Planung handelt, ist jedoch nicht allein aufgrund der Begründung des Bebauungsplans zu beurteilen, sondern kann sich - wie hier - auch aus der Festsetzung selbst ergeben (vgl. VGH BW, Urt. v.

15.09.2016, a. a. O.). Bei der Entscheidung, welche Festsetzungen zum planerischen Grundkonzept gehören, ist kein allzu strenger Maßstab anzulegen, da die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung kaum einschränkende Wirkungen haben (vgl. VG Freiburg, Beschl. v. 26.11.2014 - 4 K 2303/14 -, m. w. N.

bei juris). Vorliegend sind die Baugrenzen und die damit vorgegebenen Baufenster im Bebauungsplan fast im gesamten Plangebiet in einer ähnlichen Weise auf den Grundstücken positioniert, so dass nach Aussage des Landratsamts X ein gradliniges und doch aufgelockertes Bild der Bebauung und somit eine einheitliche Strukturierung des Ortsbilds entsteht. Die behauptete stets mittige Positionierung der Baufenster lässt sich den Plänen zwar nur bei einem weiten Verständnis einer mittigen Positionierung entnehmen. Aus den Plänen ergibt sich aber deutlich ein gleichmäßiges System der Positionierung der Baufenster bzw. Baugrenzen im Hinblick auf eine gegenseitige Wechselbeziehung der Grundstücke. So sind die Baufenster im gesamten Baugebiet und unter anderem auch auf den Vorhabengrundstücken (Flurstück-Nrn. 3100/1 und 3100/3), dem Grundstück des Antragstellers (Flurstück-Nr. 3100/2) und auf den Grundstücken in unmittelbarer Umgebung (Flurstück-Nrn. 3100, 3099, 3101, 3101/2

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sowie 3101/3) stets so positioniert worden, dass zwischen den Baufenstern ausreichend Platz entsteht. So ist als Ordnungsprinzip erkennbar, dass die Baufenster stets in Wechselbeziehung zu den Nachbargrundstücken unterschiedlich positioniert worden sind und einmal zu der einen und einmal zu der anderen Grundstücksgrenze bewusst mehr Platz gelassen worden ist, um stets einen möglichst großzügigen Abstand zwischen den Baufenstern wahren zu können. Es lässt sich dem Bebauungsplan daher ein bewusstes und gleichmäßiges System bei der Festlegung der Baugrenzen entnehmen, welches die von der Gemeinde beabsichtigte offene und aufgelockerte Bauweise und einen Abstand zwischen den Nachbarn ermöglicht, der deutlich über die bloße Einhaltung der jeweiligen Abstandsflächen nach § 5 LBO hinaus geht. Die Festsetzung der Baugrenzen dient demnach im Sinne eines planerischen Grundkonzepts erkennbar dazu, eine einheitliche und prägende Strukturierung des Ortsbilds im Sinne einer offenen und aufgelockerten Bauweise zu erreichen und stellt somit einen Grundzug der Planung dar.

Anmerkung: An dieser Stelle ist in einer Klausur insbesondere eine gute Argumentation gefragt, da die Kenntnis der Rechtsprechung - wohl - nicht vorausgesetzt werden kann und auch ein anderes Ergebnis gut vertretbar ist. In einer Klausur dürfte bei der Ablehnung des Vorliegens eines Grundzugs der Planung die weitere Prüfung in einem Hilfsgutachten vorzunehmen sein.

Zwischenergebnis: Die Festsetzung der Baugrenzen stellt einen Grundzug der Planung dar.

b) Grundzug der Planung „berührt“

Fraglich ist aber, ob dieser Grundzug der Planung auch durch die erteilte Befreiung berührt wird. Ein von den Festsetzungen des Bebauungsplans abweichendes Vorhaben berührt die Grundzüge der Planung, wenn es dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung in der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (BVerwG, Urt. v. 18.11.2010, a. a. O.). Die Grundzüge der Planung sind somit nur dann nicht berührt, wenn die Abweichung geringes Gewicht besitzt, so dass sie noch von dem im jeweiligen Plan zum Ausdruck gekommenen planerischen Willen der Gemeinde umfasst ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen. Umgekehrt wird diese Grenze für die Erteilung einer Befreiung nicht überschritten, wenn die Abweichung von Festsetzungen, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sind, nicht ins Gewicht fällt (vgl. VGH BW, Urt. v. 25.09.2018, a. a. O., v. 08.03.2018 - 8 S 1464/15 -, juris, v. 15.09.2016, a. a. O. sowie vom 14.03.2007 - 8 S 1921/06 -, juris).

Von einer Abweichung geringen Gewichts kann vorliegend angesichts der Größe der geplanten Mehrfamilienhäuser (Wohnhäuser 1 und 2) und der damit verbundenen, teilweise erheblichen Überschreitung der Baugrenzen nicht gesprochen werden.

Insbesondere das geplante Wohnhaus 1 ragt mit einer Länge von ca. 16 m und einer Tiefe von ca. 4 m in den nach dem Willen des Plangebers nicht überbaubaren westlichen Grundstücksteil hinein und überschreitet die westliche Baugrenze in

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erheblichen Umfang. Aber auch das Wohnhaus 2 überschreitet sowohl die westliche und die südliche als auch die östliche Baugrenze, so dass auch dieser Überschreitung ins Gewicht fällt. Damit weicht das Bauvorhaben von dem vom Bebauungsplan beabsichtigten Bild einer deutlich aufgelockerten Bebauung ab. Die Zulassung einer Überschreitung der Baugrenzen entfaltet auch eine Vorbildwirkung für andere Grundstücke, da eine solche Befreiung für eine Vielzahl weiterer Grundstücke im Plangebiet in Betracht käme. Die Tatsache, dass die meisten Grundstücke im Baugebiet bereits bebaut sind, schließt diese negative Vorbildwirkung nicht aus, da trotz der bestehenden Bebauung stets zusätzliche Gebäudeerweiterungen bzw.

Gebäude oder nach einem Abbruch neue Gebäude beantragt werden können.

Die Festsetzungen der Baugrenzen sind vorliegend auch - noch - nicht durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet derart nachhaltig gestört, dass das Hinzutreten des Vorhabens nicht mehr ins Gewicht fällt und der Grundzug der Planung daher nicht berührt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.11.2010, a. a. O.). Zwar weicht sowohl im gesamten Plangebiet (z. B. Flurstück-Nrn. 472/1, 3086, 3095 oder 3152/1) als auch in unmittelbarer Umgebung des Vorhabengrundstücks (Flurstück-Nrn. 3099, 3103, 3101/3, 3106, 3107) die tatsächliche Bebauung teilweise von den festgelegten Baugrenzen ab (vgl. zur Frage des maßgeblichen Baugebiets: VGH BW, Urt. v.

15.09.2016, a. a. O.). Sowohl im ganzen Plangebiet als auch in unmittelbarer Umgebung des Vorhabengrundstücks wird allerdings deutlich, dass - noch - die überwiegende Zahl der vorhandenen Gebäude die Baugrenzen einhält bzw. von diesen nur sehr geringfügig abweicht. Dies wird auch durch die Einschätzung des Landratsamts X gestützt, nach welcher die Festsetzung der Baugrenzen trotz der vorhandenen Abweichungen noch nicht obsolet geworden ist.

Zwischenergebnis: Der vorliegende Grundzug der Planung wird durch die erteilte Befreiung berührt, so dass eine Tatbestandsvoraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB bereits nicht erfüllt ist und die erteilte Befreiung objektiv rechtswidrig ist.

c) Verletzung in eigenen Rechten

Für den Erfolg eines Nachbarwiderspruchs ist es aber anerkanntermaßen nicht ausreichend, wenn ein Bauvorhaben (nur) objektiv-rechtlich rechtswidrig ist. Vielmehr muss hinzukommen, dass das Bauvorhaben gegen Vorschriften verstößt, die auch dem Schutz des Nachbarn und nicht allein öffentlichen Interessen dienen. Fraglich ist daher, ob die Festsetzung der Baugrenzen im Bebauungsplan zumindest auch dem Schutz des Nachbarn N zu dienen bestimmt ist und somit von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans in rechtswidriger Weise befreit wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.1986 - 4 C 8.84 - und Beschl. v. 08.07.1998 - 4 B 64.98 -; VGH BW, Beschl. v. 11.10.2016 - 5 S 605/16 -, jeweils bei juris).

Bei Baugrenzen ist davon auszugehen, dass sie regelmäßig zugunsten des Eigentümers des ihr gegenüberliegenden Grundstücks nachbarschützende Wirkung hat. Diese Regel fußt auf der Annahme, dass mit derartigen Festsetzungen grundsätzlich ein nachbarschaftliches Austauschverhältnis begründet und nach dem Willen des Ortsgesetzgebers ein gegenseitiges Verhältnis der Rücksichtnahme geschaffen werden soll. Demnach entfalten Baugrenzen in aller Regel aber nur hinsichtlich der ihnen rechtwinklig vorgelagerten Fläche nachbarschützende Wirkung (vgl. VGH BW, Beschl. v. 13.11.2013 - 8 S 1813/13 -, juris). Die Regel greift aber dann nicht, wenn sich dem Bebauungsplan und/oder den zu ihm gehörenden Unterlagen

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entnehmen lässt, dass mit der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien oder Baugrenzen (vgl. § 23 Abs. 1 BauNVO) über die damit verfolgten städtebaulichen Gesichtspunkte hinaus keine Rechte der Nachbarn geschützt werden sollen (vgl. u. a. BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7.17 -; VGH BW, Beschl. v.

30.06.2015 - 3 S 901/15 -, v. 02.06.2003 - 8 S 1098/03 sowie v. 09.03.1995 - 3 S 331/94 -, jeweils m. w. N. bei juris; VG Freiburg, Beschl. v. 26.11.2014, a. a. O.).

Anmerkung: Die Kenntnis dieser Rechtsprechung dürfte - wohl - nicht vorausgesetzt werden können, so dass lediglich eine gute Argumentation zu fordern ist.

Eine solche Beschränkung der Baugrenzenfestsetzung auf rein städtebauliche Interessen lässt sich dem vorliegenden Bebauungsplan jedoch nicht entnehmen. Die vorliegenden Bebauungsplanunterlagen enthalten hierzu keine entsprechenden Ausführungen. Der Vortrag des Antragsgegners, dass sich aufgrund der mittigen Positionierung aller Baufenster eine einheitliche Strukturierung des Ortsbildes und somit eine rein städtebauliche Zielsetzung erkennen lasse, überzeugt nicht. Denn gerade durch das bereits aufgezeigte gleichmäßige System der Positionierung der Baufenster bzw. Baugrenzen, in welchem einmal etwas mehr und einmal etwas weniger Abstand zur Grundstücksgrenze gelassen wurde, hat der Plangeber im Hinblick auf eine Wechselbeziehung der Grundstücke wohl ein gegenseitiges Verhältnis der Rücksichtnahme schaffen wollen, da die benachbarten Grundstücke wechselseitig von der Einhaltung der Festsetzungen profitieren können und ein wechselseitiges „Dürfen und Dulden“ der Eigentümer erzeugt wird. Auch ist vorliegend nicht ersichtlich, dass die teilweise unterschiedlichen Abstände der verschiedenen Baugrenzen zu den ihnen jeweils gegenüberliegenden Grundstücksgrenzen derart ungleich sind, dass sie gegen ein vom Satzungsgeber gewolltes faires nachbarschaftliches Austauschverhältnis im Plangebiet und damit gegen einen nachbarschützenden Charakter der Baugrenzenfestsetzung sprechen könnten (vgl.

hierzu VGH BW, Beschl. v. 19.02.2003 - 5 S 5/03 -, juris sowie v. 02.06.2003, a. a. O.).

Vielmehr ergibt sich vorliegend ein gleichmäßiges und ausgewogenes System der Positionierung der Baugrenzen. Folglich ist davon auszugehen, dass die festgesetzten Baugrenzen zugunsten des Eigentümers des ihr gegenüberliegenden Grundstücks nachbarschützende Wirkung haben.

Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben ist vorliegend zwischen den verschiedenen Baugrenzen zu differenzieren. Denn lediglich die westliche Baugrenze auf dem Flurstück.-Nr. 3100/3 liegt dem Grundstück des N gegenüber und ist daher für ihn drittschützend. Die nördliche, die östliche und die südliche Baugrenze auf dem Flurstück-Nr. 3100/3 liegen dagegen dem Grundstück des N nicht gegenüber, so dass die Überschreitung dieser Baugrenzen vorliegend auch keine Auswirkungen auf ihn haben kann und diese Baugrenzen daher nicht auch seinem Schutz zu dienen bestimmt sind. Darüber hinaus liegen alle auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 festgesetzten Baugrenzen nicht dem Grundstück des N gegenüber, da dessen Grundstück südwestlich von dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 liegt, und entfalten daher für den N keine nachbarschützende Wirkung. Dementsprechend kann sich N nur auf die Überschreitung der westlichen Baugrenze auf dem Flurstück.-Nr. 3100/3 berufen, nicht aber auf die Überschreitung der anderen Baugrenzen, da diese nicht auch seinem Schutz zu dienen bestimmt sind.

Der Antragsteller N ist daher in seinen Recht verletzt, soweit der B in rechtswidriger Weise für die Überschreitung der ihn schützenden westlichen Baugrenze auf dem

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Flurstück.-Nr. 3100/3 durch das Wohnhaus 1 eine Befreiung erteilt wurde. Die Überschreitung der Baugrenzen durch das Wohnhaus 2 auf dem Flurstück-Nr. 3100/1 verletzt ihn dagegen nicht in seinen Rechten und kann seinem Antrag daher nicht zum Erfolg verhelfen, selbst wenn die diesbezüglich erteilte Befreiung objektiv rechtswidrig ist.

Zwischenergebnis: N ist durch die Befreiung nur in Bezug auf die Überschreitung der ihn schützenden westlichen Baugrenze auf dem Flurstück.-Nr. 3100/3 durch das Wohnhaus 1 in seinen Rechten verletzt.

Anmerkung: In Bezug auf das Wohnhaus 1 hat der Antrag des N daher bereits Aussicht auf Erfolg. Die weiteren Voraussetzungen der Befreiung in Bezug auf das Wohnhaus 1 sowie die weiteren möglichen Verstöße gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften durch das Wohnhaus 1 sind daher nicht mehr zu prüfen. In Bezug auf das Wohnhaus 2 ist aber zu prüfen, ob durch die erteilte Befreiung die nachbarlichen Belange des N nicht in der durch § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen Weise berücksichtigt worden sind und ob das Wohnhaus 2 gegen weitere öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der städtebaulichen Vertretbarkeit (§ 31 Abs. 2 Nr. 2) ist dabei in der Regel anzunehmen. Ein Fehlen dieser Voraussetzung könnte dem Antrag des N zudem mangels drittschützender Wirkung nicht zum Erfolg verhelfen.

2. Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.

Entfalten festgesetzte Baugrenzen (hier: Flurstück-Nr. 3100/1), für deren Überschreitung eine Befreiung erteilt worden ist, zumindest zugunsten des Antragstellers keine nachbarschützende Wirkung, ist eine Verletzung seiner Rechte nur dann gegeben, wenn die erteilte Befreiung seine nachbarlichen Belange nicht in der durch § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen Weise berücksichtigt hat (vgl. BVerwG, Urt.

v. 19.09.1986, a. a. O. und Beschluss v. 08.07.1998, a. a. O.; VGH BW, Beschl. v.

11.10.2016, a. a. O.; VG Freiburg, Urt. v. 10.09.2018 - 10 K 7606/17 -). Nach § 31 Abs.

2 BauGB sind die nachbarlichen Belange auch bei der Befreiung von nicht nachbarschützenden Normen, wie sie hier hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche erteilt wurde, unter Beachtung des Gebots der Rücksichtnahme zu würdigen. Im Rahmen einer Bewertung der Umstände des Einzelfalls ist eine Würdigung der Interessen des Bauherrn an der Erteilung der Befreiung und der Interessen des betroffenen Nachbarn an der Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen oder Nachteilen durch eine Befreiung vorzunehmen. Der Nachbar kann umso mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten Nutzung tretende andersartige Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, umso weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind. Weiterhin ist zu prüfen, ob die durch die Befreiung eintretenden Nachteile zu einer qualifizierten und zugleich individualisierten Beeinträchtigung der schutzwürdigen Interessen des Nachbarn führt und sie das Maß dessen übersteigen, was einem Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (VGH BW, Beschl. v. 11.10.2016, a. a. O.; VG Freiburg, Urt. v. 10.09.2018, a. a. O.).

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Derartige unzumutbare Auswirkungen des Vorhabens (Wohnhaus 2) auf das Grundstück des Antragstellers N sind vorliegend nicht anzunehmen. Der Antragsteller wird durch die Befreiung von den Festsetzungen der westlichen und südlichen Baugrenze in der Weise belastet, dass der Baukörper des Wohnhauses 2 um etwas weiter nach Westen und etwas weiter nach Süden und somit insgesamt näher in südwestlicher Richtung an sein Grundstück heranrückt. Dies hat weder in Bezug auf die Besonnung, Belichtung und Belüftung noch im Hinblick auf eine erdrückende Wirkung relevante Auswirkungen. Denn zum einen liegt das geplante Wohnhaus 2 dem Grundstück des Antragstellers nicht unmittelbar gegenüber, sondern rückt nur leicht in südwestliche Richtung näher an dieses heran. Zum anderen hält der Baukörper des Wohnhauses 2 die bauordnungsrechtlich gebotenen Abstandsflächen ein, die in Bezug auf die Belange der Belichtung, Besonnung und Belüftung regelmäßig das Maß der baurechtlichen Rücksichtnahme bestimmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.01.1999 - 4 B 128.98 -, m. w. N. bei juris; VGH BW, Beschl. v. 01.10.1999 - 5 S 2014/99 -, juris sowie Urt. v. 20.09.2016, a. a. O.).

II. Verstoß gegen festgesetzte Anzahl an Vollgeschossen

Der qualifizierte Bebauungsplan (Abbildung 2) hat sowohl für das Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3 als auch für das Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 die Anzahl der Vollgeschosse mit „I +D“ (1 Vollgeschoss und 1 Dachgeschoss) festgesetzt (vgl. §§ 16 Abs. 2 Nr. 3, 20 Abs. 1 BauNVO). Diese festgesetzte Anzahl der Vollgeschosse wird vorliegend durch das geplante Wohnhaus 2 überschritten, da es insgesamt drei Geschosse aufweist. Eine Befreiung für diese Überschreitung wurde B durch das Landratsamt X nicht erteilt. Dementsprechend ist das Wohnhaus 2 aufgrund des Verstoßes gegen die Festsetzung des Bebauungsplans objektiv rechtswidrig.

Fraglich ist aber erneut, ob diese Festsetzung nachbarschützend und damit zumindest auch dem Schutz von N zu dienen bestimmt ist. Die Festsetzung der Zahl der Vollgeschosse ist als eine das Maß der baulichen Nutzung betreffende Festsetzung grundsätzlich nicht nachbarschützend (vgl. nur Söfker, in:

Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 130. EL August 2018, § 16 BauNVO Rn. 49 ff.). Da aufgrund der weiten Entfernung des Baufensters auf dem Vorhabengrundstück Flurstück-Nr. 3100/1 zu dem Grundstück des Antragstellers N und in Ermangelung von entsprechenden Anhaltspunkten im Textteil oder der Begründung des Bebauungsplans auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Satzungsgeber der Festlegung der Zahl der Vollgeschosse ausnahmsweise - zugunsten des Grundstücks des Antragstellers N - nachbarschützende Wirkung beimessen wollte (vgl. VGH BW, Beschl. v. 11.01.1995 - 3 S 3096/94 -, juris), kann vorliegend auch nicht ausnahmsweise von einem Drittschutz der Festsetzung der Zahl der Vollgeschosse ausgegangen werden. Folglich ist der Antragsteller N in Bezug auf die Anzahl der Vollgeschosse des Wohnhauses 2 nur in seinen subjektiven Rechten verletzt, wenn seine nachbarlichen Belange im (theoretischen) Falle einer Befreiung nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und sich die Überschreitung ihm gegenüber als rücksichtslos erwiese.

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Denn die Überschreitung der Zahl der Vollgeschosse hat bereits aufgrund der weiten Entfernung und der nicht gegenüberliegenden, sondern lediglich diagonalen Lage des geplanten Wohnhauses 2 zum Grundstück des Antragstellers N für diesen keine spürbaren Auswirkungen. In Bezug auf die vorgetragenen Belange der Belichtung, Besonnung und Belüftung ist dabei aufgrund

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der Einhaltung der bauordnungsrechtlich gebotenen Abstandsflächen sowie ebenfalls aufgrund der weiten Entfernung bereits davon auszugehen, dass keine unzumutbare Beeinträchtigung des Antragstellers durch eine Überschreitung der Anzahl der Vollgeschosse anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.01.1999, a. a. O.; VGH BW, Beschl. v. 01.10.1999, a. a. O. sowie Urt. v. 20.09.2016, a. a. O.).

Darüber hinaus erscheint auch die Annahme einer aus der Überschreitung der Vollgeschossanzahl resultierenden „erdrückenden Wirkung“ des Wohnhauses 2 gegenüber dem Grundstück des Antragstellers N fernliegend. Im Hinblick auf eine möglicherweise erdrückende Wirkung liegt eine Verletzung des nachbarschützenden Rücksichtnahmegebots vor, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins" entsteht oder wenn die Größe des

„erdrückenden" Gebäudes auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls - und gegebenenfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandflächen - derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird. Eine erdrückende Wirkung liegt danach nicht schon dann vor, wenn die bisherigen Verhältnisse durch eine bauliche Verdichtung geändert werden. Vielmehr muss von dem Vorhaben aufgrund der Massivität und Lage eine qualifizierte handgreifliche Störung auf das Nachbargrundstück ausgehen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 09.02.2018 - 5 S 2130/17 -, m. w. N. bei juris). Eine solche rücksichtslose Wirkung hat das geplante Wohnhaus 2 auf das Grundstück des Antragstellers N aller Voraussicht nach nicht. Das Grundstück des Antragstellers N liegt dem Wohnhaus 2 nicht gegenüber, sondern in relativ weiter Entfernung in südwestlicher Richtung. Das Wohnhaus 2 ist dabei sogar ca. 7 m von der Grundstücksgrenze des anderen Vorhabengrundstücks Flurstück-Nr. 3100/3 entfernt, so dass durch die so entstehende große Freifläche eher der Eindruck einer offenen Bauweise anzunehmen ist. Die Anordnung der Geschosse als Staffelgeschosse trägt auch dazu bei, dass ein aufgelockertes Bild und kein Gefühl des „Eingemauertseins“ bzw. eine massive Kubatur entstehen dürfte. Das gilt umso mehr, weil das Wohnhaus 2 gerade in südliche und damit in die Richtung des Grundstücks des Antragstellers N gestaffelt ist und man von dem Grundstück des N nicht auf eine geschlossene Wand, sondern auf ein der Höhe nach in Treppenform abgestuftes Wohnhaus blickt. Darüber hinaus überragt das geplante Wohnhaus 2 mit seiner Höhe von ca. 9 m trotz der größeren Anzahl an Vollgeschossen nicht die Nachbargebäude, so dass auch aus diesem Grund eine erdrückende Wirkung nicht anzunehmen ist.

Zwischenergebnis: N wird durch den Verstoß des geplanten Wohnhauses 2 gegen die Festsetzung der Anzahl der Vollgeschosse nicht in seinen Rechten verletzt.

Anmerkung: Ein Verstoß gegen andere nachbarschützende Vorschriften ist vorliegend nicht ersichtlich. In Bezug auf das Wohnhaus 2 hat der Antrag des N daher keine Aussicht auf Erfolg.

III. Teilbarkeit der Baugenehmigung

Vorliegend hat der Widerspruch des N in Bezug auf das Wohnhaus 1 auf dem Flurstück-Nr. 3100/3 Aussicht auf Erfolg, nicht aber in Bezug auf das Wohnhaus 2 auf

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dem Flurstück-Nr. 3100/1. Insoweit ist der Antrag des N auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs unbegründet. Fraglich ist dementsprechend, ob der Widerspruch des N insgesamt oder nur teilweise Aussicht auf Erfolg hat.

Dies hängt maßgeblich davon ab, ob die dem B erteilte Baugenehmigung teilbar ist, da eine Baugenehmigung nur dann teilweise aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt werden kann, wenn sie tatsächlich und rechtlich teilbar ist. Dabei ist der Grundsatz der Einheitlichkeit des Vorhabens zu beachten. Ferner setzt die Annahme einer Teilbarkeit voraus, dass im Falle einer Teilaufhebung ein sinnvoller und selbständig realisierbarer Genehmigungsumfang verbleiben muss. Zudem darf dem Bauherrn kein Vorhaben aufgedrängt werden, dass er so nicht verwirklichen könnte oder wollte (vgl. nur VGH BW, Urt. v. 20.09.2016, a. a. O.; SächsOVG, Beschl. v. 13.08.2012 - 1 B 242/12 - sowie v. 10.10.2018 -, jeweils m. w. N. bei juris). Nach diesen Maßgaben ist der Streitgegenstand und damit auch das Anordnungsinteresse des Antragstellers N vorliegend teilbar. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich des Wohnhauses 1 auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3 führt nicht dazu, dass das Wohnhaus 2 auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/1 baurechtlich dieses Schicksal teilen müsste. Vielmehr ist die Baugenehmigung insoweit tatsächlich und rechtlich teilbar. Das Wohnhaus 2 kann vorliegend auch ohne das Wohnhaus 1 realisiert werden, da es nicht nur räumlich von diesem klar abgrenzbar ist, sondern auch objektiv sinnhaft bleibt. Zudem gibt es vorliegend auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der als Bauherrin Beigeladenen B hierdurch ein Vorhaben aufgedrängt würde, das sie nicht verwirklichen könnte oder wollte.

IV. Ergebnis

Der Antrag des N auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die der B erteilte Baugenehmigung ist zwar zulässig, aber nur teilweise begründet. Das Verwaltungsgericht wird daher die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers N gegen die der Beigeladenen B erteilte Baugenehmigung des Landratsamts X anordnen, soweit mit dieser Baugenehmigung der Neubau eines Mehrfamilienhauses mit acht Wohneinheiten (Wohnhaus 1) auf dem Grundstück Flurstück-Nr. 3100/3 gestattet wird und den Antrag im Übrigen ablehnen.

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