4. Empirischer Teil
4.1 Soziale Arbeit
4.1.2 Armut muss Platz haben. Leitfaden zum Thema Armutsmigration
verstößt gegen keine straf- oder verwaltungsrechtlichen Gesetze. Da es diese aber so gut wie nicht gibt, kennt der Gesetzesgeber bei der
„Besetzung“ solcher Gebäude eine Fülle von Rechtsvorschriften:
Hausfriedensbruch, Einbruch, Besitzstörung – um nur einige zu nennen (sic!).“ (ebd.: 20)
Als Referenzrahmen bezieht sich die Broschüre „Derf i des?“ Ein Leitfaden für Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten der Suchthilfe Wien auf den öffentlichen Raum und das „sozial verträgliche Nebeneinander“ (ebd.: 3) in ihm.
Der Referenzrahmen, die leitenden Normen und Werte der Diagnose, sind das subjektive Sicherheitsgefühl, der öffentliche Raum und das juristische Recht auf Grundlage von Gesetzen, Verboten, dem Straf- und Verwaltungsrecht.
Die angenommene Lösung auf der Prognose-Ebene soll durch die Einhaltung des Leitfadens, durch Kenntnis der Gesetzeslagen und Verhinderung von Gesetzes-
übertritten erfolgen. Die praktische Umsetzung der Problemlösung sieht die Broschüre bei der mobilen Sozialen Arbeit beziehungsweise der Sozialraumorientierten Sozialen Arbeit, den informierten Individuen und der Polizei. Der frame der Prognose ist das Recht und das subjektive Sicherheitsgefühl/der öffentliche Raum.
Durch die Lösung soll der öffentliche Raum, das Verhalten der Nutzer_innen und das subjektive Sicherheitsgefühl positiv beeinflusst werden.
Da die Broschüre keine Bilder verwendet erfolgte keine Einbeziehung außersprachlicher Kommunikationsmittel.
4.1.2 Armut muss Platz haben. Leitfaden zum Thema Armutsmigration
Der ausschließlich auf Deutsch verfasste Leitfaden Armut muss Platz haben.
Leitfaden zum Thema Armutsmigration ist 2012 unter Herausgeberschaft der Caritas Österreich erschienen. Er wird von einem Vorwort Michael Landaus, dem Präsidenten der Caritas Österreich, eingeleitet. Landau bezieht sich bereits im
zweiten Absatz auf Armutsmigration und führt damit in das Thema der Broschüre ein. Armut und Migration sind zentrale frames der Broschüre.
„Wenige Autostunden von Wien entfernt, im EU-Mitgliedsland Rumänien, lebt jedes zweite Kind in akuter Armut. Neben Rumänien, ist Armut auch in Bulgarien, Armenien und der Ukraine allgegenwärtig. Menschen verlassen diese Länder, weil sie zu Hause keine Zukunft sehen. Sie stranden in Österreichs Städten, in Parks und in Obdachlosenhäusern.“ (ebd.: 3)
Interessant erscheint hier die Aufzählung der einzelnen EU-Mitgliedsländer (Rumänien, Bulgarien) und Nicht-Mitgliedsländer (Armenien, Ukraine). Wäre die Broschüre beispielsweise von der Caritas Erzdiözese Graz-Seckau herausgegeben worden, hätte in die Aufzählung mit großer Wahrscheinlichkeit die Slowakei Eingang gefunden. In diesem Sinne sagt das Benennen von Herkunftsländern viel über die eigene Positionierung aus und divergiert regional.
Konstant bleibt allerdings die Nennung österreichischer Orte, Städte, „Parks und Obdachlosenhäuser“. (ebd.: 3)
Im ersten Kapitel: „Ursachen für Armutsmigration. Armut und Ausgrenzung im reichen Europa“ (ebd.: 4) wird aber betont, dass die Gründe für Armutsmigration universell menschliche Ursachen hätten und sich nicht nach Herkunftsländern unterscheiden ließen:
„Die Motive und lebensgeschichtlichen Hintergründe für Armutsmigration ähneln sich häufig, unabhängig von der sozialen und geografischen Herkunft der Armuts-
migrant_innen.“ (ebd.: 4)
Der Leitfaden gliedert sich in zehn Kapitel, die Texte sind entweder kurze Hintergrund-Informationen oder längere Artikel.
Die Kapitel machen zwei räumliche Bezüge auf, die durch die frames Armut und Migration gerahmt sind. Sie stellen entweder einen Bezug zu „Europa“ und
„Herkunftsländern“ her oder sie beziehen sich auf den lokalen Ort der Pfarren beziehungsweise auf Österreich als Ganzes. Österreich wird im fünften Kapitel
„Hintergrund: Bettelverbote in Österreich. Keine bundesweiten Gesetze und hohe Strafen“ (ebd.: 9) einmalig erwähnt. Hierbei wird der Staat Österreich als repressives und mit hohen Strafen drohendes Gebiet gekennzeichnet.
Da es sich bei der Zielgruppe der Broschüre um potentiell Gebende, als Christ_innen und Gemeindemitglieder handelt, ist davon auszugehen, dass dieser Verweis nicht abschreckend wirken soll. Die Broschüre informiert an dieser Stelle vielmehr über die Kriminalisierung von Bettler_innen:
„Insgesamt hat sich die Rechtslage für bettelnde Personen in jüngster Vergangenheit verschlechtert: Sie werden aufgrund von Tatbeständen, die mit der Tätigkeit des Bettelns einhergehen, verfolgt;; z.B. für unbegründetes Stehenbleiben, Störung der öffentlichen Ordnung oder aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis von Nicht-EU-Bürger_innen – Betteln wird als Erwerbsarbeit ausgelegt, bettelnde Menschen werden damit kriminalisiert. Geldstrafen gegenüber vermögenslosen Personen sind unverhältnismäßig. Der Strafrahmen reicht bis zu 14.500 Euro. Im Normalfall können die Strafen nicht bezahlt werden, wodurch Ersatzfreiheitsstrafen angetreten werden müssen.“ (ebd.: 9)
Die Themen der Broschüre sind neben Armutsmigration, so genannte Wander-
bewegungen von Süden nach Norden und von Osten nach Westen;;
Bettelverbote, Bettelmythen und die „Bettelmafia“. Die angesprochenen Zielgruppen sind Christ_innen und Gemeindemitglieder. Inklusive des siebten Kapitels „Tipps in der Begegnung mit bettelnden Menschen. Hilfreiche Anregungen für den Umgang mit Bettler_innen“ (ebd.: 11) richten sich die letzten vier Kapitel dezidiert an Gemeindemitglieder beziehungsweise gläubige Christ_innen oder Katholik_innen.
Das diagnostizierte Problem, dem sich die Broschüre annehmen will, ist der faktenarme Diskurs um Betteln, der sich maßgeblich aus Mythen speise. Es sollen Fragen zum Thema beantwortet werden, um Missverständnissen vorzubeugen. Die Broschüre benennt sowohl als Diagnose als auch als Prognose die Notwendigkeit für Christ_innen, dem Leitgedanken „Not sehen und handeln“
(ebd.: 3) weiterhin zu folgen. Dieser Leitgedanke wird von Landau bereits im Geleitwort zitiert. Darüber hinaus ist dem achten Kapitel: „Bettlende Menschen im Umfeld pfarrlicher Einrichtungen“ (ebd.: 12) der Satz: „Helfen im Sinne der Nächstenliebe ohne Wenn und Aber“ als Unterüberschrift vorangestellt. (ebd.: 12)
Die Problematik beträfe Armutsmigrant_innen, EU-Bürger_innen aus den Staaten der EU-Erweiterungsrunden 2004/07, Menschen, die schon lange in Österreich leben und Menschen, die sich nur temporär in Österreich aufhalten.
Die Broschüre bezieht sich normativ auf die menschliche Hilfsbereitschaft und christliche Werte wie Nächstenliebe, der Begriff der Barmherzigkeit wird allerdings nicht verwendet. Als Diagnose-Rahmen wurden die frames Armut und Migration bestimmt.
Auf der Prognose-Ebene werden als Lösungsansätze Maßnahmen in den Herkunftsländern, Rückkehrberatung, Notversorgung und Basisberatung von Bettler_innen, „tatkräftige Nächstenliebe“ oder „Nächstenliebe ohne Wenn und Aber“ gefordert. Diese Lösungen sollen von der Caritas beziehungsweise der Kirche und ihren Gemeinden umgesetzt werden. Als weitere Akteur_innen adressiert die Broschüre die Politik, die österreichische Gesellschaft und ein soziales und solidarisches Europa. Von den Lösungen sollen Armutsmigrant_innen, Migrant_innen aus Südosteuropa, Bettler_innen und Obdachlose profitieren.
Als weitere Nutznießer_innen des Lösungsansatzes benennt die Broschüre Hilfesuchende aber auch die Gesellschaft im Allgemeinen, Gemeindemitglieder und im Speziellen Senior_innen. Der frame der Prognose wurde mit Spendenverhalten gefasst.
In der Broschüre werden ausschließlich Fotos als nichtsprachliche Kommuni-
kationsmittel verwendet. Sie werden nur sehr spärlich eingesetzt, von insgesamt sechzehn Seiten, sind nur sechs Seiten bebildert. Auf den Seiten eins (Abb. 1), fünf (Abb. 2), acht (Abb. 3), dreizehn (Abb. 4) und sechzehn (Abb. 5) handelt es sich um Fotografien vermutlich obdachloser beziehungsweise armer Menschen.
Auf dem Titelblatt ist die Fotografie eines offensichtlich am Boden sitzenden Mannes, der die Geldspende von zehn Cent empfängt, abgebildet. (Abb. 1) Das Gesicht des Mannes ist stark verpixelt und unscharf. Im Vordergrund und gut erkennbar sind das Geld, die gebende Hand und der Sammelbecher.
Abb. 1 und Abb. 2 Armut muss Platz haben (2012)
Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5 Armut muss Platz haben (2012)
Die Menschen blicken direkt in die Kamera, und scheinen offensichtlich zu wissen, dass sie fotografiert werden. Allein zwei der sechs Fotos zeigen Menschen beim Essen (Abb. 3, Abb. 4) ein Foto zeigt eine Frau (Abb. 3)24 und einen Mann vermutlich bei einer Essensausgabe im öffentlichen Raum. Ein weiteres Foto bildet zwei Männer ab, die auf einer Parkbank sitzen. Die Bank steht vor einer Häuserwand auf der mutmaßlich das Graffito „Kein Thema“ steht (Abb. 4).
24 Dass in der Broschüre nur eine Frau dargestellt wird, lässt sich möglicherweise damit erklären, dass Obdachlosigkeit als männliches Problem verstanden wird und wohnungslose beziehungsweise obdachlose Frauen strukturell unsichtbar sind. A.H.
Auf dem Foto auf der fünften Seite ist ein auf einer Parkbank liegender Mann zu sehen (Abb. 2). Das letzte Bild zeigt einen auf einer Parkbank sitzenden Mann;;
auf der Bank befinden sich Decken, unter und neben ihr stehen Taschen und Sackerln (Abb. 5). Auf insgesamt drei von sechs Fotografien sind Parkbänke abgebildet (Abb. 2, Abb. 4, Abb. 5). Nur auf einem Bild stehen die fotografierten Menschen (Abb. 3). In der Abfolge der verwendeten Fotografien lässt sich keine Entwicklung erkennen, die Bilder beziehen sich also im Ablauf nicht aufeinander.
Dafür sind auf allen Abbildungen Menschen zentral, sie bilden den Mittelpunkt des Geschehens.
Als Thema lässt sich ihre manifeste, substanzielle Armut dekodieren. Ihre Notlagen werden vor allem an Hand der Motive Essen und Schlafen dargestellt.
Auf dem Titelblatt wird die Handlung des Bettelns dargestellt. Dies ist die einzige Abbildung konkreten Bettelns.