4. Empirischer Teil
4.3 Gemeinden
4.3.1 Unsere wichtigsten Regeln für Bettler. Cele mai importante reguli pentru
правила за просяците. Amare importante reguli anda-l manush kai manqen
Die Broschüre, die auch als Verhaltens-Kodex oder, leicht abfällig, als Benimm-
Fibel bezeichnet wird, umfasst vierundzwanzig Seiten. Auf den Seiten zwei bis siebzehn erläutert jeweils ein schlagwortartiger Satz ein Verbot beziehungsweise Gebot zu den Themen Betteln und öffentliche Ordnung. Der Satz steht jeweils unterhalb eines Piktogramms, das etwa die Hälfte der DIN A5 Seite einnimmt.
Herausgeberin ist die Stadtgemeinde Salzburg. Die vorliegende Analyse stützt sich auf die Salzburger Original-Version.
Einleitend werden auf den Seiten drei bis acht die Bettelverbote in Salzburg angeführt. Vorab fließt die Summe der einzelnen Verbote in der Aufforderung:
„Betteln dürfen Sie nur still“ zusammen.
Daran schließen sich Schilderungen von Verboten an, die „aggressives“ und
„organisiertes“ Betteln sowie Betteln mit und von Kindern als untersagt anführen.
Dazwischen steht der Aufruf, sich als Opfer von Zwangsmaßnahmen bei der Polizei zu melden. Diese Reihung und Kontextualisierung kann als ein Motiv im Diskurs um die „Bettelmafia“ verstanden werden, da hier eine Verbindung zwischen Betteln und Zwangsmaßnahmen gezogen wird.
Ab der achten Seite wird sich raumpolitisch auf die Orte bezogen, an denen das Betteln im Sinne eines sektoralen Bettelverbots untersagt ist. Auf den Seiten acht, neun und zehn wird erläutert, dass Betteln im Gasthaus, im Geschäft und an der Haustür verboten ist. Daran anschließend wird auf den Seiten elf und zwölf angeführt, dass das Betteln vor Geschäften und Trinkbrunnen (sic!) nicht erwünscht ist.
Auf den Seiten dreizehn bis sechzehn werden die Leser_innen in allgemeine ordnungs- und verwaltungspolitische Vorgaben unterwiesen. Die Informationen reichen von der Aufforderung die öffentlichen Ruhezeiten einzuhalten (Unsere wichtigsten Regeln für Bettler. Cele mai importante reguli pentru cerşetori.
Legfontosabb szabályaink koldusok számára. Нашите най-важни правила за просяците. Amare importante reguli anda-l manush kai manqen: 15), über die Anweisung Müll in den Mistkübel zu werfen (ebd.: 13) bis zur Mitteilung, dass für die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs Fahrscheine gelöst werden müssen (ebd.: 16).
Auf der vierzehnten Seite steht der Aufruf, öffentliche Toiletten zu benutzen.29 Innerhalb dieser, sowohl paternalistischen als auch menschenverachtenden Aufforderung, ist das verwendete Piktogramm besonders auffällig;; es wird in der anschließenden Bildanalyse dementsprechend ausführlich analysiert werden.
Auf den Seiten achtzehn bis zweiundzwanzig werden unter der Überschrift: „Zum Umgang mit Bettlerinnen und Bettlern“. „Comportamentul faţă de cerşetori“. „A koldusokkal és koldusasszonyokkal való bánásmód“. „За контакта с просяците“.“Sar te comportistu al cersitorenca“ potentiell Gebende folgendermaßen adressiert:
„Bettler sind zumeist Notreisende. Sehr häufig, weil sie ihre Familien daheim nicht ernähren können. Ob Sie ihnen etwas geben oder nicht, ist ihre persönliche Entscheidung. Bitte sind Sie Bettlern gegenüber freundlich.
Wenn Sie mit ihnen sprechen, benutzen Sie einfache Worte (sic!). Die meisten sprechen nicht Deutsch. Wenn sie jemand ungebührlich anbettelt (Anfassen, Nachgehen, Aggression), rufen Sie die Polizei.“ (ebd.: 20)
29 Im Sommer 1992 kam es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen das so genannte Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Deutschland), in dem so genannte vietnamesische Vertragsarbeiter_innen untergebracht waren. Dem Molotow-Cocktails werfenden Mob ging eine wochenlange Hetzkampagne gegen Menschen voraus, die vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern (ZAST) im Stadtteil Lichtenhagen teilweise im Freien ausharren mussten. Zentrales Thema war unter anderem die Verschmutzung deutschen Rasens:
„So wurde vermehrt der Gestank von Fäkalien thematisiert, der sich durch die frei campierenden Flüchtlinge entwickelt hätte. (…) Die Rede von den katastrophalen hygienischen Bedingungen für die Anwohner_innen aus Rostock-Lichtenhagen (!) lässt auf (…) mangelnde Empathie für die Situation der Flüchtlinge schließen. So scheint es, als seien die Lichtenhagener_innen die Opfer der Flüchtlinge und ihrer barbarischen Lebensweise.“ (Geelhaar et al. 2013: 152) A.H.
Als Zielgruppe der Broschüre werden vordergründig Bettler_innen und
„Notreisende“ adressiert, darüber hinaus richtet sie sich aber auch an die Bürger_innen als potentiell Gebende. Die Themen sind (Bettel-) Verbote, Untersagungen, Regeln und verbotene beziehungsweise unerwünschte Verhaltensweisen im öffentlichen Raum. Auf der Diagnose-Ebene wurden Bettelverbote und die Kommunikation von Regeln für den öffentlichen Raum als zu lösende Probleme diagnostiziert. Die Referenzen im Wertesystem wurden mit Bettelverboten und Bettelmythen gefasst. Die definierten frames der Diagnose sind Kriminalität und Subjektives Sicherheitsgefühl/öffentlicher Raum.
Auf der Prognose-Ebene, wurde der Lösungsansatz in der Kommunikation von Bettelverboten und Geboten für den öffentlichen Raum gefasst. Parallel dazu wird potentiell gebenden Leser_innen nahegelegt, deutlich zu sprechen und davon auszugehen, dass Bettler_innen kein Deutsch verstehen. Im Konfliktfall sollte die Polizei gerufen werden.
Die Lösungsansätze liegen auf der Prognose-Ebene, in der Information der Bettler_innen, der Bürger_innen und Geschäftsleute, und darüber hinaus, in den Aktionen von Seiten der Polizei und der Bürger_innen-Service-Stellen in den Stadtteilen. Als Referenzen der Prognose-Ebene wurden Verbote, Regeln und Verhaltensweisen identifiziert. Der frame wurde mit Gesetzen gefasst.
Die Broschüre Unsere wichtigsten Regeln für Bettler. Cele mai importante reguli pentru cerşetori. Legfontosabb szabályaink koldusok számára. Нашите най-
важни правила за просяците. Amare importante reguli anda-l manush kai manqen basiert maßgeblich auf der Verwendung von Bildmaterial. Auf zweiundzwanzig von vierundzwanzig Seiten werden Piktogramme verwendet.
Die ehemalige Salzburger Sozialrätin Anja Hagenauer betonte, dass den Piktogrammen eine wichtige Vermittlungsfunktion zukommen würde:
„Jede Regel ist mit einer einfachen, aber aussagekräftigen Illustration verdeutlicht und in den Sprachen Deutsch, Rumänisch, Ungarisch, Bulgarisch und Romanes beschrieben. Damit stellen wir sowohl für die Bettlerinnen und Bettler als auch für die Bevölkerung der Stadt klar, was geht
und was nicht. So detailliert ist das bisher auch den Salzburgerinnen und Salzburgern nicht bekannt.“ (ebd.)
Die Piktogramme werden also nicht nur gestalterisch eingesetzt, sondern dienen als nonverbale Sprache. Die Tageszeitung Kurier schreibt über die Broschüre:
„Zum besseren Verständnis und auch, weil einige Bettler nicht lesen können, wurden sie mit Illustrationen versehen.“ (Lindorfer 2014: Benimm-Fibel für Bettler:
„Anfassen verboten“)
Hier wird davon ausgegangen, dass es sich bei Bettler_innen (auch) um Analphabet_innen handeln würde.
Der Hintergrund des Titelbildes bildet das Piktogramm einer bettelnden Person, die im Schneidersitz am Boden sitzt und die linke Hand, mit nach oben gewendeter Handfläche, ausstreckt (Cele mai importante reguli pentru cerşetori.
Legfontosabb szabályaink koldusok számára. Нашите най-важни правила за просяците. Amare importante reguli anda-l manush kai manqen: Abb. 20).
Daneben steht der Titel der Broschüre in den verwendeten fünf Sprachen. Am rechten oberen Bildrand befinden sich das Logo und der Schriftzug der Stadt Salzburg.
Die erste Regel „Betteln dürfen Sie nur still“ (ebd.: 1) wird durch ein Piktogramm erklärt, das einen Bettler zeigt, der eine Passantin anspricht (Abb. 21). Die Sprechblase ist rot durchkreuzt, darunter steht ein Stoppschild auf dem eine abwehrende Handfläche abgebildet ist. Die Information „nur still“ betteln zu dürfen, referiert auf die Bettelverbote des „aufdringlichen“ und „aggressiven“
Bettelns.
Auch das folgende Piktogramm, das das Verbot: „Personen anfassen, begleiten und beschimpfen ist verboten“ (ebd.: 2) schildert, bezieht sich auf diese beiden Bettelverbote (Abb. 22). Auch das „stille“ Betteln wird wiederholt versucht zu unterminieren. In den sektoralen Verbotszonen österreichsicher Städte ist das
„stille“ Betteln verboten. Im März 2017 wurden diese durch eine Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs teilweise aufgehoben. (vgl. Berger 2017: Bettelverbote in Bregenz teilweise aufgehoben)
Abb. 20, Abb. 21 und Abb. 22 Unsere wichtigsten Regeln für Bettler (...) (2014)
Die Piktogramme auf den Seiten eins bis sechs und siebzehn beziehen sich entweder auf die im Salzburger Landespolizeigesetz bestehenden Bettelverbote („aggressiv“, „aufdringlich“, „organisiert“ und „in Begleitung Minderjähriger“) oder auf sektorale Bettelverbote. Beispielsweise: „Bitte (sic!) nicht vor Trinkbrunnen betteln“ (ebd.: 12) (Abb. 23). Sie sind mit einem roten Stoppschild gekennzeichnet, auf dem eine abwehrende Hand dargestellt ist.
Abb. 23, Abb. 24 und Abb. 25 Unsere wichtigsten Regeln für Bettler (...) (2014)
Von diesem Schema weichen drei mit einem Stoppschild gekennzeichnete Abbildungen ab. Auf Seite drei steht der mit einem Verbotsschild gekennzeichnete Satz: „Sie dürfen nur alleine betteln“ (ebd.: 3) Und auf der nächsten Seite: „Wenn sie zum Betteln gezwungen werden, gehen sie zur Polizei.“ (ebd.: 4) Hier wird ein_e Bettler_in gezeigt, der_dem das Geld augenscheinlich durch einen „Hintermann“ der „Bettelmafia“ abgenommen wird.
(Abb. 24) Die beiden Regeln untersagen Verhalten, das keinem Verbot unterliegt.
Es ist dem Gesetzestext nach weder verboten gemeinsam zu Betteln, noch sich ausbeuten zu lassen. Trotzdem funktionieren beide Regeln als Verweis auf die Existenz einer „kriminellen Organisation“. Die letzte Regel: „Sie dürfen keine Behinderung vortäuschen“ (ebd.: 17), die durch ein rotes Stoppschild als Bettelverbot gekennzeichnet ist, nimmt ebenfalls stark auf den Diskurs um die
„Bettelmafia“ Bezug, würde aber in den Bereich des Strafrechts fallen (Abb. 25).
Hier wird ein grundlegendes Problem der Bettelverbote offensichtlich, in vielen Bereichen überschneiden sie sich mit allgemeinen Strafrechtsbestimmungen und stellen somit einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsgebot dar.
Die siebente Seite („Zum Musizieren brauchen sie eine Erlaubnis“ (ebd.: 7)) fällt aus der Reihung der Bettelverbote. Diese ordnungspolitische Auflage ist auch nicht mit einem Stoppschild gekennzeichnet und leitet zu den konkreten Verbotsorten über. Auf Seite acht („Betteln im Gasthaus ist verboten“ (ebd.: 8)), Seite neun („Betteln im Geschäft ist verboten“ (ebd.: 9)), Seite zehn („Betteln an der Haustür ist verboten“ (ebd.: 10)), Seite elf („Bitte nicht vor dem Eingang eines Geschäfts betteln (ebd.: 11)) und Seite zwölf („Bitte nicht vor Trinkwasserbrunnen betteln“ (ebd.: 12)) werden die verschiedenen Verbotsorte als Bestandteile eines sektoralen Bettelverbots angeführt. Obwohl die letzten beiden Piktogramme mit einer höflichen Bitte betitelt sind, werden sie durch ein Stoppschild als Quasi-
Verbot dargestellt.
Die folgenden Seiten dreizehn („Sie müssen Müll in den Mistkübel werfen“ (ebd.:
13) bis sechzehn („Im Bus müssen Sie ein Ticket haben“ (ebd.: 16)) befassen sich mit Verhaltensanweisungen im öffentlichen und halböffentlichen Raum.
In besonderer Weise werden Bettler_innen darauf hingewiesen, öffentliche Toiletten zu benutzen. Es ist das einzige Bild, auf dem keine Personen, sondern nur menschliche Hinterlassenschaften abgebildet sind (Abb. 26). Das Piktogramm zeigt eine Rasenfläche auf der sich eine undefinierbare gelbbraune Masse und weiße Papierfetzen befindet. Der Haufen ist rot durchkreuzt, über ihm kreisen Fliegen. Ein Pfeil weist auf ein Gebäude mit zwei Eingangstüren, über denen die symptomatischen Ikonen der Zweigeschlechtlichkeit angebracht sind, es soll sich
offensichtlich um ein Toilettenhäusschen handeln, das für Frauen und Männer ausgewiesen ist. Die Pfeilbewegung könnte nun auch den Schluss zulassen, dass der Aufruf lautet, die gelbbraune Masse auf die Toilettentür zu schmeißen. Der darunter zu lesende Satz, schließt diese Interpretation aber aus: „Benutzen Sie öffentliche Toiletten“ (ebd.: 14).
Abb. 26 Unsere wichtigsten Regeln für Bettler (...) (2014)