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II. E MPIRISCHER T EIL

11. B EANTWORTUNG DER F ORSCHUNGSFRAGE

Interviewpersonen der Ansicht, dass für die ExpertInnen ein spezifisches Zusatzwissen in der Essstörungsbehandlung erforderlich ist. Eine therapeutische Sichtweise auf eine psychische Krankheit wird also nicht nur von den psychologischen Professionen verlangt, sondern auch von der Sozialarbeit. Mit ihrer psychotherapeutischen Orientierung kann die Sozialtherapie demnach einen geeigneten Behandlungsansatz für Menschen mit Essstörungen darstellen. Für einen Interviewpartner ist ein psychotherapeutisches Grundwissen in der Behandlung von Essstörungen jedoch nicht ausreichend. Er erachtet eine zusätzliche Psychotherapieausbildung als vorteilhaft, da sonst unklar ist, was das psychotherapeutische Spektrum in der Sozialtherapie wäre. Hier wird deutlich, dass der Sozialtherapiebegriff oftmals mit dem Begriff der Psychotherapie in Verbindung gebracht wird. Eine klare Beschreibung der Tätigkeitsbereiche ist wesentlich, damit sich die Kompetenzbereiche der beiden Richtungen nicht zu sehr überschneiden und es somit auch nicht zu Überforderungen seitens der ExpertInnen kommt.

Aus diesen Ausführungen ist zu folgern, dass die sozialtherapeutisch ausgerichtete Klinische Sozialarbeit im Essstörungsbereich noch nicht Fuß fassen konnte und ihr Aufgabengebiet noch nicht überall verbreitet ist. Hier ist eine explizitere fachliche Profilierung wesentlich, damit die Klinische Sozialarbeit als Leitdisziplin der Sozialtherapie angesehen werden kann und der Therapiebegriff nicht nur psychologischen oder medizinischen Professionen vorbehalten bleibt.

Auf die Frage nach dem Verhältnis von Psycho- und Sozialtherapie wurde deutlich, dass beide Richtungen einen anderen Aufgabenbereich besitzen. Alle InterviewpartnerInnen, ExpertInnen sowie auch Betroffene, waren sich einig, dass sich die Psychotherapie der Psyche widmet, hingegen die Sozialtherapie ihren Fokus auf dem sozialen Kontext einer Person richtet. Im Kapitel 5.1 wurde aufgezeigt, dass eine „sowohl Psychotherapie als auch Sozialtherapie“ Haltung angestrebt wird. Dies wurde auch in der Analyse deutlich.

Aus Sicht der Interviewpersonen ist eine enge Zusammenarbeit sinnvoll, um Menschen in verschiedenen Bereichen adäquat behandeln zu können.

Wie aus der Literatur hervorgeht, ist die Psychotherapie, vor allem in der ambulanten Behandlung von Essstörungen, bisher das Mittel der Wahl. Alle interviewten Betroffen haben sich einer Psychotherapie in einer Einrichtung speziell für Essstörungen unterzogen. Für die gegenständliche Problematik scheint es bezeichnend, dass keine dieser Betroffenen während der Behandlung Kontakt zu SozialarbeiterInnen hatte. Aus der Analyse der ExpertInnen- und der Betroffenen-Interviews wurde deutlich, dass in diesen Einrichtungen ein multiprofessionelles Team bestehend aus ÄrztInnen,

PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen vorhanden ist, jedoch keine SozialarbeiterInnen angestellt sind. Nur in den Essstörungsambulanzen in den Krankenhäusern sind wenige SozialarbeiterInnen tätig, die jedoch nicht ausschließlich für den Essstörungsbereich zuständig sind und somit, aufgrund ihrer großen Zuständigkeitsbereiche, oft überfordert sind. Ob in naher Zukunft mehr Ressourcen zu Verfügung gestellt werden können ist nicht vorhersehbar, da besonders in den ambulanten Einrichtungen die finanziellen Mitteln dafür fehlen.

Der Umstand, dass nur ein Sozialarbeiter aufgrund der Ressourcenknappheit für ein Interview zur Verfügung stand, erschwert die Beantwortung der Frage, inwieweit die Sozialtherapie in der sozialarbeiterischen Praxis zur Anwendung kommt. Aus der Analyse ging hervor, dass in der Essstörungsbehandlung die Sozialtherapie zum Teil angewendet wird. Jedoch wurde betont, dass für ihre Ausübung spezifische Weiterbildungen und praktische Erfahrungen erforderlich sind. Ein großer Teil des Aufgabenbereiches besteht aus der Kontaktherstellung und dem Weiterverweisen der Betroffenen an professionelle Fachkräfte und Einrichtungen. Auch aus den Interviews mit den PsychotherapeutInnen, die mit SozialarbeiterInnen zusammenarbeiten, konnte dies festgestellt werden. Jedoch schildert der Sozialarbeiter ebenso die Bearbeitung des Selbstwertes und die Bewusstseinsbildung bezüglich gesunder Ernährung als wichtigen Teil in der Behandlung von Essstörungen. Er betont, dass diese Aufgaben nicht nur den psychologischen Professionen vorbehalten sind. Zudem werden Tätigkeiten wie die Erhebung der Essgewohnheiten, Therapieplanung, Alltagscoaching und in manchen Fällen Biografiearbeit genannt. Die Betroffenen werden mithilfe psychosozialer Beratung und Case-Management behandelt und es kommen Methoden wie die Netzwerkkarte und die Ernährungspyramide zur Anwendung. Es konnte jedoch festgestellt werden, dass eine direkte Begleitung in den Lebensalltag der Betroffenen nicht indiziert ist. Hier wird deutlich, dass die angeführten Tätigkeiten den Aufgabenbereich der traditionellen Sozialarbeit zum Teil überschreiten und es einer spezifischen Ausbildung und praktischer Erfahrung bedarf, um den klinischen Anspruch gerecht zu werden. Diesen Anspruch kann die Klinische Sozialarbeit mit ihrer fachlichen Spezialisierung erfüllen.

Auf die Frage inwieweit die Sozialtherapie in der psychotherapeutischen Praxis angewendet wird, wurde deutlich, dass der sozialen Dimension in der Psychotherapie eine große Bedeutung zukommt. Jedoch kann sie nur in Form von hypothetischen Gesprächen über soziale Probleme und zum Teil in Form von Übungen im Raum der Psychotherapie berücksichtigt werden. Vor allem bei der systemischen Familientherapie werden Angehörige z.B. in Form von Elterngespräche in die Behandlung integriert.

Jedoch ist eine direkte Begleitung und Unterstützung im Lebensfeld der Betroffenen bei keiner der interviewten PsychotherapeutInnen durchsetzbar. Viele der Interviewpersonen, die nicht direkt mit SozialarbeiterInnen zusammenarbeiten, übernehmen sozialarbeiterische Tätigkeiten wie z.B. Vermittlungs- und Vernetzungsaufgaben. Jedoch wurde diesbezüglich auf das fehlende fachliche Wissen und der höhere Zeitaufwand aufmerksam gemacht. Hier wird deutlich, dass die Psychotherapie zwar ihren klaren Aufgabenbereich besitzt, jedoch auch Aufgaben übernommen werden, die eigentlich dieses Tätigkeitsfeld überschreiten.

Inwieweit die Sozialtherapie im Essstörungsbereich notwendig ist, hängt laut der Interviewauswertung vom individuellen Fall ab. Jedoch sind sich alle einig, dass die Sozialtherapie für Menschen mit Essstörungen eine hilfreiche und entlastende Unterstützungsmöglichkeit neben der Psychotherapie darstellen kann. Besonders in der praktischen Hilfestellung im Lebensfeld der Betroffenen wird die Notwendigkeit der Sozialtherapie von den PsychotherapeutInnen, sowie von den Betroffenen, gesehen. In der Psychotherapie werden bestimmte Problembereiche besprochen und Handlungsweisen in Form von Hausübungen erarbeitet. Jedoch haben die Betroffenen, wie aus der Untersuchung hervorging, oft Schwierigkeiten diese Übungen in ihrem Lebensalltag, außerhalb der Psychotherapie, umzusetzen. Hier kann die Sozialtherapie durch ihre Alltagsnähe und ihre „person-in-environment“ Perspektive eine geeignete Unterstützungsleitung darstellen. Zum einen könnte die Sozialtherapie in der ambulanten Behandlung massiveren Belastungen und somit auch einem Klinikaufenthalt entgegenwirken und zum anderen könnte sie nach einem stationären Aufenthalt den Betroffenen helfen, das Gelernte in ihrem Lebensalltag beizubehalten und mögliche Rückfälle vorzubeugen.

Aus dem Theorie- und dem Empirieteil wurde erkennbar, dass Essstörungen nicht nur mit körperlichen und psychischen Belastungen, sondern auch mit vielen erheblichen sozialen Problemen verbunden sind. Angesichts der vielen Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Essstörung beitragen und den schweren bio-psycho-sozialen Folge- und Begleiterscheinungen lassen sich weitere deutliche Aufgabenbereiche, wie sie zum Teil auch im Kapitel 4.4 dargestellt wurden, für die Sozialtherapie der Klinischen Sozialarbeit im Essstörungsbereich erkennen. Die im Kapitel 2.5 dargestellten Problembereiche und Herausforderungen einer Essstörung konnten größtenteils durch die Interviews identifiziert werden. Betroffene berichteten über massive Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen wie z.B. Partnerschaft, Familie, Freunde, Freizeit, sowie Beruf und Ausbildung. Sie sprachen von sozialer Isolation, Reduzierung von

diversen Aktivitäten und Unternehmungen und dem Nachlassen der Lebensfreude. Wie im Theorieteil dargestellt wurde, ist ein wesentliches Ziel der Sozialtherapie die soziale Integration. Gerade bei Menschen mit Essstörungen ist dies wesentlich, da sie sich immer mehr von ihrem sozialen Umfeld zurückziehen und kaum mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Dies konnte in der Interviewauswertung bestätigt werden. Fast der gesamte Alltag der Betroffenen dreht sich um Themen wie Ernährung, Figur und Gewicht. Daher gilt die Erarbeitung einer Tagesstruktur und einer erfüllten Freizeitgestaltung als wichtiger Aufgabenbereich. Auch im Rahmen der beruflichen Orientierung konnte ein mögliches Aufgabengebiet (z.B. Unterstützung beim Erstellen von Bewerbungsunterlagen, und Begleitung bei Bewerbungsgesprächen) für die Sozialtherapie festgestellt werden. Aus den Betroffenen-Interviews ging hervor, dass viele von ihnen die Essstörung noch immer nicht ganz überwunden haben und es immer noch zu Rückfällen kommen kann. Daher nimmt auch die Rückfallprophylaxe einen hohen Stellenwert ein. Die finanziellen Schwierigkeiten konnten in den Interviews nicht bestätigt werden, da die interviewten Betroffenen entweder ihren Lebensstandard selbst finanzierten oder von ihrer Familie finanziell unterstützt wurden.

Die Betroffenen schilderten einen langen Leidensweg zwischen dem Auftauchen erster Symptome und dem Aufsuchen professioneller Hilfe. Wie auch aus der Literatur hervorgeht, versuchen vor allem Betroffene mit Bulimie oder Binge-Eating-Störung die Essstörung zu verheimlichen und es dauert meist Jahre, bis sie sich anderen Personen anvertrauen. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass Essstörungen sehr stark mit Scham und Selbstzweifel verbunden sind und es für viele eine große Herausforderung darstellt, sich diese Erkrankung einzugestehen. Auch die Motivation für eine Verhaltensveränderung ist oft schwankend. Dies wurde in den Betroffenen-Interviews ersichtlich. Die Sozialtherapie kann durch ihre Niedrigschwelligkeit den Zugang zu professioneller Unterstützung erleichtern und durch ihre bio-psycho-soziale Perspektive die Anliegen der KlientInnen auf allen Ebenen erkennen. Im Bereich der Motivationsarbeit hat sie durch die Herstellung einer zwischenmenschlichen Beziehung, durch die direkte Begleitung in der Lebenswelt und durch Psychoedukation die Möglichkeit einen wesentlichen Beitrag zu leisten.

Aus dem theoretischen und empirischen Teil ging hervor, dass eine Essstörung sich auch auf das gesamte soziale Umfeld auswirken kann. Familie, Freunde und PartnerInnen reagieren mit Hilflosigkeit und teilweisem Unverständnis. Auf der anderen Seite stellen sie jedoch, besonders bei der Kontaktaufnahme mit professionellen Einrichtungen, eine Stütze dar. Das soziale Umfeld kann eine wesentliche Ressource für die Betroffenen

darstellen und den Genesungsprozess positiv beeinflussen. Auch hier kann die Sozialtherapie durch das direkte Eintauchen in die Lebenswelt eine geeignete Unterstützungsleistung sein und das soziale Umfeld stärker in die Behandlung miteinbeziehen.

Abschließend kann festgehalten werden, dass eine Essstörung eine psychiatrische Erkrankung ist, die mit erheblichen Auswirkungen in verschiedenen Lebensbereichen der Betroffenen verbunden ist. Diese Auswirkungen lassen sich nur schwer in biologische, psychische und soziale Bereiche aufteilen, da sie sich gegenseitig beeinflussen. Deshalb ist eine ganzheitliche Behandlung auf allen drei Ebenen unerlässlich. Die Relevanz der Sozialtherapie und somit auch der interdisziplinären Zusammenarbeit wird in der Praxis bereits gesehen und zum Teil auch umgesetzt. Jedoch wird der sozialtherapeutisch ausgerichteten Klinischen Sozialarbeit, besonders in den ambulanten Essstörungsinstitutionen, bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.