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Ausgewählte Entwicklungsaspekte von Pflegekindern

4. P ERSPEKTIVEN UND S ICHTWEISEN DER INVOLVIERTEN A KTEUR I NNEN

4.4. Pflegekinder

4.4.1. Ausgewählte Entwicklungsaspekte von Pflegekindern

Pflegekinder haben, wie bereits erwähnt, zusätzlich zu den alltäglichen Aufgaben und Problemen, die alle Kinder in unserer Gesellschaft bewältigen müssen, besondere pflegekinderspezifische Entwicklungsaufgaben, wie etwa die Identitätsentwicklung zu meistern. Die Anhäufung von Risiken und Belastungen zeigt, dass Pflegekinder insgesamt ungünstigere Entwicklungschancen haben, als Kinder, die durchgängig unter stabilen Lebensbedingungen aufwachsen. Eine dauerhafte Unterbringung in einer passenden Pflegefamilie kann jedoch ein Wendepunkt im Leben dieser Kinder sein und eine Korrektur der vorherigen Entwicklungsprozesse ermöglichen. Dem Kind können neue Optionen (zufriedeneres Leben, psychische und physische Gesundheit, stabile

Partnerschaften etc.) eröffnet werden, wenn die Integration in eine gute Pflegefamilie erfolgreich war (vgl. Wolf 2016a: 159f).

Nachfolgend werden einige wichtige Entwicklungsaspekte von Pflegekindern dargestellt.

Einleitend soll bindungstheoretisches Basiswissen die Relevanz von Bindungen, Identitätsentwicklung und der Loyalitätskonflikte in Bezug auf die kindliche Entwicklung von Pflegekindern verdeutlichen.

4.4.1.1. Bindung bei Pflegekindern

„Die Bindungstheorie geht auf den englischen Psychiater John Bowlby (1907-1990) zurück, der sich mit den grundlegenden Bedürfnissen von Kindern insbesondere im Hinblick auf soziale Beziehungen beschäftigt hat.“ (Nowacki/Remiorz 2018: 66) Als zentrales Grundbedürfnis eines Säuglings werden exklusive Beziehungen, die zum Überleben gebraucht werden und seine gesunde Entwicklung fördern und sicherstellen, beschrieben (vgl. ebd.: 66).

„In diesem Fall wird von Bindung gesprochen, also von einer exklusiven besonderen Beziehung zum Beispiel zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Der primäre Fokus der Bindungstheorie liegt allerdings auf dem Kind und seiner primären Bezugsperson, durch die das Grundbedürfnis des Kindes nach Schutz und Versorgung, insbesondere auch nach emotionaler Versorgung, sichergestellt ist.“ (ebd.: 66)

Soziale Erfahrungen in der Kindheit gelten als prägend für spätere Beziehungen im Leben, weshalb sichere Bindungsbeziehungen für eine gesunde psychische Entwicklung eine bedeutende Grundlage darstellen. Ein feinfühliges Verhalten der primären Bezugspersonen (zuverlässige, schnelle und angemessene Reaktion) bietet dem Kind eine sichere Bindungsbasis, sodass das Kind Sicherheit und Schutz bei Unruhe und Unbehagen (promptes Trösten, verlässliches Beruhigen, etc.) erlebt. Die Balance zwischen Bindung und Exploration, erlaubt so dem Kind, dass es sicher seine Umwelt erkunden kann.

Liegen ungünstige soziale emotionale Bedingungen vor, entwickeln sich unsichere Bindungen. Es gibt drei Formen unsicherer Bindungsqualitäten: der unsicher- vermeidende Bindungsstil, der ambivalente Beziehungstypus und der desorganisierte Typ. Diese drei Formen unterscheiden sich in der Versorgung durch die Bezugspersonen und den Erfahrungen des Kindes.

Können Kinder keine sicheren Bindungserfahrungen zu spezifischen Bezugspersonen machen, besteht besonders im sozialen Kontext ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten (z.B.: Auffälligkeiten in Bezug auf Nähe und Distanz) (vgl. ebd.:

66ff).

Fremdunterbringungen außerhalb der Familie eröffnen Kindern die Möglichkeit einer sicheren gesunden Entwicklung, wenn diese in ihren Herkunftsfamilien nicht ausreichend versorgt und gefördert wurden. Durch eine Unterbringung in einer Pflegefamilie erhält das

Kind die Aussicht auf kontinuierliche Bezugspersonen. Damit werden positive Beziehungserfahrungen möglich. Diese basieren auf emotionalen Sicherheiten und einem zuverlässigen Lebensort.

Aber nicht nur belastende Erfahrungen in der Herkunftsfamilie können ein Risiko für die kindliche Entwicklung darstellen, auch die Unterbringung in einer Pflegefamilie, die nur durch die Trennung von den primären Bindungspersonen möglich ist, kann ein Belastungsrisiko für Kinder sein (vgl. Bovenschen 2016: 124).

„Erkenntnisse der Bindungstheorie haben gezeigt, dass Trennungen von den Bindungspersonen die emotionale Sicherheit der Kinder bedrohen und – unabhängig von der Qualität der Bindungsbeziehung – Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung sowie auf körperlich-physiologischer Ebene Stress auslösen.“ (ebd.:

124)

Jeder Wechsel der Bezugspersonen bedeutet einen Bindungsabbruch und steigert dadurch das Entwicklungsrisiko zusätzlich. Kinder besitzen ein tief verankertes Bedürfnis, zu ihren Bezugspersonen Bindungen zu entwickeln. Ein bedeutsamer Schutzfaktor für eine positive Entwicklung von Kindern, mit belastenden Lebensumständen, ist das sichere und verlässliche Erleben von Bezugspersonen (vgl.

ebd.: 125).

„Dementsprechend bietet das Angebot neuer Bindungsbeziehungen in der Pflegefamilie für die Kinder einen potenziellen Schutzfaktor, der die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann, dass sich die Kinder trotz belastender Erfahrungen langfristig positiv entwickeln.“ (ebd.: 125)

Bindungen entwickeln sich nicht kindspezifisch, sondern beziehungsspezifisch, abhängig von den Bindungsqualitäten (sichere und unsichere Bindung). Gerade bei Pflegekindern ist die Bindungsentwicklung besonders wichtig, da es zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Bindungsaufbau in der Herkunftsfamilie durch den Wechsel in die Pflegefamilie erneut Bindungen aufgebaut werden müssen. Viele Pflegekinder kommen aufgrund ihrer Vorerfahrungen und der Tatsache, dass Bindungsmuster hauptsächlich in ihrer Beziehungsgeschichte und dem bereits erfahrenen Fürsorgeverhalten der Bezugspersonen entstanden sind, mit negativ besetzten Mustern der Bindungsbeziehungen zu den Pflegefamilien. Bindungsmodelle verändern sich nur sehr langsam und können nur durch neue und positive Erfahrungen ersetzt werden. Der Wechsel in eine gut förderliche Umgebungsbedingung kann zusätzlich zu einer guten Bindungsentwicklung beitragen (vgl. ebd.: 125ff).

„So wurde die Bindungssicherheit vor allem durch die Beziehungserfahrungen in der Pflegefamilie gefördert, spezifisch durch Elternverhalten, das feinfühlig auf die Bedürfnisse der Kinder eingeht und das von positivem emotionalem Klima sowie positiver Regelsetzung gekennzeichnet ist.“ (ebd.: 127)

Die bindungsorientierte Beratung von Pflegeeltern, aber auch von Herkunftseltern, kann unterstützend wirken, zumal die Bindungsentwicklungen und Verhaltensprobleme (z.B.:

ängstlich, sehr anhänglich, traurig, aggressives Verhalten etc.) zusammenhängen (vgl.

Bovenschen 2016: 128f).

Die dauerhafte Pflegeplatzunterbringung greift somit am intensivsten in die Bindungsentwicklung eines Kindes ein. Die Lebenswege der Kinder können tiefgreifend positiv verändert werden, sobald das Pflegekind ausreichend Vertrauen (emotionale Sicherheit) zu den Pflegeeltern aufgebaut und diese neu entwickelten Beziehungen in das bisherige Bindungsnetzwerk integriert hat (vgl. Kindler et al. 2011b: 136f).

4.4.1.2. Identitätsentwicklung bei Pflegekindern

„Unter Identität verstehen wir unsere Einmaligkeit, unsere Unverwechselbarkeit. Das Wesentliche an der Identitätsfindung ist für alle Menschen eine feste Vorstellung vom eigenen Selbst, die Kontinuität des Ichs.“ (Wiemann 2014: 78)

Dabei ist eine Übereinstimmung der Vorstellung von sich selbst, mit den Wahrnehmungen durch andere wichtig. Alle Kinder identifizieren sich von klein auf mit den elterlichen Bindungspersonen und verinnerlichen deren Normen und Werte. Mit Beginn der Pubertät entdecken sie ihre individuellen Eigenarten und Eigenschaften und beginnen sich langsam von den Eltern abzulösen (vgl. ebd.: 78f). Die Entwicklung der Identität versteht sich als ein Prozess von Interaktionen zwischen sich und anderen. Das Grundwesen einer positiven Identität zeigt sich in der Achtung der eigenen Grenzen und Schwächen, also im Selbst- kennen und - lieben (vgl. Wiemann 2011: 1).

Die Identität im Spannungsfeld zweier Familienwelten zu entwickeln, stellt eine besondere Herausforderung für Pflegekinder dar. Pflegekinder, die nicht unmittelbar nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht werden, tragen bereits Vorerfahrungen in sich. Da sich das sozioökonomische Lebensumfeld der Herkunftsfamilie meist von dem Milieu der Pflegefamilie unterscheidet, kommt es zu einem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wertorientierungen und Familienmuster (vgl. Pietsch 2009: 42).

„Eine Inpflegenahme stellt die Kinder und Jugendlichen vor die Aufgabe sich in einem neuen sozialisatorischen Milieu trotz ihrer bisweilen abweichenden Ursprungssozialisation zurechtzufinden. Entscheidend ist daher, wie es Pflegekindern gelingt, Widersprüchliches und Verschiedenartiges in ihrem Leben zu integrieren und dabei die eigene Identität zu erhalten.“ (ebd.: 42)

Die Identitätsbildung ist ein aktiver Prozess und kann sich je nach Alter, veränderten Lebensumständen und Sozialbeziehungen und außerfamiliären Sozialisationseinflüssen neu orientieren (vgl. ebd.: 45f).

4.4.1.3. Loyalitätskonflikte von Pflegekindern

Der Begriff Loyalität steht für Gefühle der Treue und Achtung, der inneren Verbundenheit einem Menschen gegenüber oder den Wunsch nach Verbundenheit und Akzeptanz. Es bedeutet, Sichtweisen von anderen zu teilen und Werte zu vertreten, auch wenn man sie

nicht gänzlich teilt. Problematisch wird es, wenn Loyalität von verschiedenen Menschen eingefordert wird. Das heißt, dass man verschiedenen Menschen gegenüber loyal sein möchte, aber in einen Konflikt gerät, weil man den Menschen oder deren Haltungen nicht mehr vertraut bzw. man diese nicht mehr vollumfänglich teilt. Loyalitätskonflikte im Pflegekinderwesen entstehen vorrangig durch unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen der Beteiligten (vgl. Hopp 2011: 1f).

Ein zentraler Aspekt der Lebenssituation eines Pflegekindes ist, dass sich das Kind in unterschiedlich intensiver Form zwischen zwei Familien befindet. Fragen der Loyalität sind dabei ein genauso bedeutender Bestandteil, wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation oder den eigenen Unsicherheiten. Loyalitätskonflikte des Pflegekindes entstehen nicht ausschließlich aufgrund einzelner Reaktionen der beteiligten Erwachsenen, sondern auch wegen der konfliktbehafteten Position des Kindes zwischen den beiden Familien. Sorgen, dass eine neu aufgebaute Beziehung zu den Pflegeeltern, die bereits bestehende Beziehung zu den leiblichen Eltern ausschließen könnte, prägen den inneren Konflikt. Der Hintergrund von Loyalitätskonflikten liegt oftmals darin, dass das Pflegekind den Ansprüchen beider Familien genügen möchte und zu vermitteln versucht. Auch die eigene Erwartungshaltung, sowohl den leiblichen Eltern, als auch den Pflegeeltern gerecht zu werden und diese gleich behandeln zu wollen, stürzt Pflegekinder in innere Spannungen und Notlagen. Mögliche Loyalitätskonflikte müssen nicht zwingend durch Erwachsene entstehen, sondern können auch durch Werte und Normen (andere Bräuche und Lebensstile etc.) der jeweiligen Familie ausgelöst werden (vgl. Pierlings: 2014: 24ff).