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IV. Empirische Analysen 86

3. Historische Quellenanalysen 122

3.2 Historische Quellenanalyse 2: Wörterbücher und Grammatiken 141

3.2.2. Grammatiken 147

hier in Frage stehende Konstruktion die für ihre Zeit typische Sprachverwendung repräsentieren.

Die weiteren gesichteten Wörterbücher, die “Deutschen Wörterbücher” von Tetzner (1894), Detter (1897) und Weigand (51909), sowie das “Neue Handwörterbuch der deutschen Sprache” von Windekilde (1896) führen keine Belege für die Konstruktion auf, wie auch das schon erwähnte Handwörterbuch von Sanders (1883) nicht. Dies scheint vor allem mit der Anlage und dem Umfang der Wörterbücher zusammenzuhängen, denn sie sind mit Ausnahme von Weigands Wörterbuch keine Belegwörterbücher bzw. sind Hand- und Taschenausgaben.

Beim Weigand könnte das Fehlen der Konstruktion eventuell auf seine Tradition zurückgeführt werden.104

Jacob Grimm (21898): Deutsche Grammatik. IV. Neuer vermehrter Abdruck besorgt durch Gustav Roethe und Edward Schroeder.

Im Vergleich zur ersten Auflage der Grimmschen Grammatik erscheinen in der Neubearbeitung auch die Verben kriegen und bekommen in der Konstruktion unter

“Participia” im Kapitel “Modus”. Dem Abschnitt steht die Bemerkung voran: “Hier habe ich zu erwägen inwiefern participia den abhängigen inf. ersetzen, und ziehe folgende einzelne fälle in betracht.” Der neu zugekommene Teil enthält folgende Belege (S.150):

16.b part. prät. nach kriegen, bekommen: ich kriege, bekomme gescholten, geschenkt: bunte bänder bekam ich geschenkt Felsenb. 2, 322107; ich kriege sonst gescholtenes Lessing 2, 579108; die sache, das geheimnis vertraut kriegen (durch vertrauen erfahren).

Es wird nichts über die Verortung der Konstruktion im System der Verbalgenera ausgesagt.

Wunderlich, Hermann (1894): Unsere Umgangsprache [sic] in der Eigenart ihrer Satzfügung.

Wunderlich versucht in seiner vor allem für das Fachpublikum verfassten Abhandlung “die Freiheiten des mündlichen Verkehrs für die Erkenntnis [der] Schriftsprache” (S. VIII) auszuwerten und die Einzelerscheinungen in größere Zusammenhänge einzuordnen. Für die

“wissenschaftliche Beweisführung” und um die Geläufigkeit einzelner Fügungen beurteilen zu können, stützt er sich in erster Linie auf literarische Texte, “wo diese Fügungen des täglichen Lebens darzubieten schien[en]” und bezieht auch mundartliche Literatur mit ein (S.

VIIIf). Er beruft sich u.a. auf Matthias, den er bei Anerkennung seiner Leistung wegen der Verurteilung von mundartlichen Erscheinungen in der Schriftsprache auch kritisiert (S. 199).

Im Kontext anderer “Neubildungen am Zeitwort (Hilfsverba)” schreibt Wunderlich (S. 217f):

So hat sich uns das Zeitwort in seinen Formen erschüttert gezeigt […] Der Ballast der Hilfsverba führt, wie wir schon oben gesehen haben, zu Verschiebungen aller Art; Bedeutungsgehalt und Verbalfunktion bleiben nicht länger in einer Form vereinigt, das eine oder das andere löst sich ab, verschiebt sich und tritt in andere Gebiete über. Seltener trifft diese Verschiebung den Bedeutungsgehalt. Immerhin gehören

107 Schnabel, Johann Gottfried (1744). Wunderliche fata einiger seefahrer …, Nordhausen: “bundte Bänder aber bekam ich zur Gnüge von den Bauers-Töchtern auf den Hochzeiten geschenckt”.

108 Lessing, Gotthold Ephraim: Theatralischer Nachlass, Comische Einfälle und Züge. In: Lachmann, Karl, Hrsg.

(1838). G. E. Lessings Sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe. Berlin: Voß, 579: “Zwölf Ducaten.

Greiff zu, ich kriege sonst gescholtenes”.

auch hierher ein paar Beispiele: Matthias […] hat beobachtet, dass das Wort bekommen in den Dienst des Passivs tritt, du wirst Schläge bekommen drängt sich an Stelle von du wirst geschlagen werden.

Wenn nun vollends ein Lehrer droht: Sie werden Ihr Stipendium entzogen bekommen, so zeigt sich deutlich, wie die neue Funktion den alten Bedeutungsgehalt von Grund aus verschoben hat.

Wunderlich beobachtet die Verschiebung des ursprünglichen Bedeutungsgehalts, also semantische Entleerung beim Verb bekommen, das hier “in den Dienst des Passivs” tritt. Der weitere Kontext impliziert, dass er die auxiliare Verwendung meint. Wunderlich bezieht sich hier auf die Erstauflage von Matthias’ Sprachleben (1892), er bringt aber – vom letzten abgesehen – andere Beispiele als dieser. Er scheint die Konstruktion über eine Substantiv- (Voll-)Verb-Verbindung abzuleiten: geschlagen werden > Schläge bekommen > … > etwas (entzogen) bekommen.

Joseph Schiepek (1899): Der Satzbau der Egerländer Mundart. Erster Theil.

Unter Passivum schreibt Schiepek (S. 141, Originalfußnoten s. u. 109)

Neben werden dient im Egerländischen, wie im Bayrisch-Österreichischen, Schlesischen, Obersächsischen und in der Umgangsprache [Fn. 2] das Verbum bekommen, egerländisch kröign (kriegen) zu einer Art von Umschreibung des Passivs: Du kröigst da Göld ̄ászōlt = dir wird dein Geld ausgezahlt. Hàust g·wekslt kröigt? = ist dir das Geld ein-(um-)gewechselt (in kleinere Münze umgetauscht) worden? Eə hàut ·s g·schenkt kröigt = es wurde ihm geschenkt u.s.w.[Fn.3])

Neben dem eigentlichen Beschreibungsobjekt „Egerländisch” deutet Schiepek – wenn auch ohne konkretere Angaben zu machen – auf weitere großräumige Verbreitung der Konstruktion. Seine Beispiele umfassen neben dem ditransitiven schenken die ditransitiv verwendeten wechseln und auszahlen, also Geben-Verben im weiteren Sinne.

Oscar Weise (1900): Syntax der Altenburger Mundart.

Mit Bezug auf Wunderlichs “Satzbau” und Grimms “Grammatik” schreibt Weise über die Bevorzugung des Aktivs vor dem Passiv als eine “Neigung” des Deutschen, die in der

109 Fußnote 2 mit Hinweis auf Wunderlichs “Umgangssprache” und Fußnote 3 Anmerkung “Auch öst.”.

Mundart greifbar ist in einigen nachstehend angeführten Fällen, darunter im folgenden (S.

11):

Öfter tritt dafür ein transitives Verbum mit Objekt ein: er kriegt Hiebe […] Damit sind zu vergleichen Wendungen, in denen kriegen durch ein Partizip des Perfekts verstärkt ist: er hat das Buch geschenkt gekriegt = das Buch ist ihm geschenkt worden, er kriegt geholfen = ihm wird geholfen, er kriegt den Koffer nachgetragen = ihm wird der Koffer nachgetragen.

Während Schiepek die Konstruktion in seinem “Satzbau” “eine Art von Umschreibung des Passivs” nennt, schreibt Weise in seiner um ein Jahr später erschienenen “Syntax” über die

“Verstärkung” des (Konstruktions-)Verbs durch ein Partizip des Perfekts zum Zwecke der aktivischen Ersetzung des Passivs.

Ludwig Sütterlin (1900, 21907): Die deutsche Sprache der Gegenwart. (Ihre Laute, Wörter, Wortformen und Sätze.) Ein Handbuch für Lehrer und Studierende und Lehrerbildungsanstalten.

In der ziemlich ausführlichen Diskussion des Passivs geht Sütterlin auch auf die passivische Konstruktion der “Volkssprache” ein. Neben Einführung der lateinischen grammatischen Termini und einer übersichtlicheren Gliederung mit Überschriften kommen in der zweiten Auflage Ergänzungen hinzu, die (zumindest die wesentlichen) hier mit Klammerung versehen werden. Sprechend ist auch die Wahl des als Überschrift angeführten Beispiels (1907: 270):

[“Er bekommt genommen”.] [Bei Dativ-Verben] bildet die Volkssprache [eine (statt: die)]

Leideform in ganz anderer Weise. Sie verwendet die Zeitwörter beko mmen oder kr iegen zusammen mit dem zweiten Mittelwort und sagt: Ich bekomme (kriege) die Zeitung gebracht. Er bekommt alles genommen. Du bekommst die Schuhe ausgezogen. Diese Fügung ist natürlich von Sätzen ausgegangen wie Er bekommt das Buch geschenkt, wo das Zeitwort beko mmen (kr iegen) zu dem Sinn des Ganzen stimmte. [Hier wird also der Dativ passivischer Satzgegenstand, also das fernere Ziel betrachtet als Ausgangspunkt der Handlung. Ein Satz wie Fritz schreibt dem Lehrer einen Brief hat demgemäß z wei passive Ausdrucksweisen neben sich: Ein Brief wird dem Lehrer von Fritz geschrieben und der Lehrer bekommt von Fritz einen Brief geschrieben.]

Bei Sütterlin ist eindeutig von einer Passivform (der Volkssprache) die Rede, und obwohl das Wort “Hilfszeitwort” nicht erwähnt wird, spricht doch die Parallelstellung mit dem werden- Passiv – noch expliziter in der zweiten Auflage: “der Dativ [wird] passivischer Satzgegenstand” – für seine Annahme. Ebenfalls in der veränderten Auflage ist die Sprache

von “zwei passive[n] Ausdrucksweisen” die der Konstruktion schon einen eigenen Platz in der Diathese zuzusprechen scheint, lange bevor diese Ansicht sich im späten 20. Jh durchsetzt. Auch hier wie – unter den hier behandelten Werken – zuerst in Sanders’ großem Wörterbuch, wird die vermutete Ausgangskonstruktion mit dem geben-Verb angesprochen.

Engelien, August (51902): Grammatik der neuhochdeutschen Sprache.

Die erste Auflage von Engeliens Grammatik (1867) wurde vielfach in der Lehrerausbildung und für die Unterrichtsvorbereitung verwendet, ab der zweiten Auflage wurde sie dann gezielt für diese Zwecke bearbeitet. Die Gliederung beruht auf der von Vernalekens Syntax und die Belege stammen neben der Lutherbibel aus Texten von v.a. klassischen Autoren des 18-19.

Jh., teils aus der zeitgenössischen Literatur. Im Kapitel “Infinitiv und Partizip abhängig von auxiliarisch gebrauchten Verben” steht am Ende einer längeren Liste: “bekommen mit dem 2. Partiz. wohl nur in den Redensarten: geschenkt bekommen, z.B. G.: Sie bekam täglich etwas geschenkt. gelehrt und erlaubt bekommen.” (S. 349, Hervorhebung im Original).

Außer der Zuordnung zu “auxiliarisch gebrauchten” Verben steht keine nähere Bestimmung bei bekommen und die Beispiele bringen nur geben-Verben i.w.S. Der Vermerk “wohl nur in Redensarten” scheint auf restringierten Gebrauch zu deuten, obwohl gelehrt und erlaubt bekommen im Lichte der übrigen Literatur eher nicht die meistverwendeten Konstruktionen sein dürften.

Curme, George, O. (1905): A Grammar of the German Language: designed for a thorough and practical study of the language as spoken and written to-day.

Curmes Grammatik ist für Germanistikstudenten geschrieben und betont “based not upon some ideal conception of how the language should be spoken, but upon the actual varying usage of the intelligent classes in the German Empire, Austria, and Switzerland” (S. VII). Für den zeitgenössischen Sprachgebrauch, dessen Darstellung das Hauptanliegen des Autors ist, wurden 700 Werke verschiedenster Stile und Herkunft aus der Zeit nach 1850 gelesen sowie die repräsentativen Zeitungen. Daneben nehmen vor allem die Lutherbibel-Ausgabe letzter Hand und die klassischen Autoren einen wichtigen Platz innerhalb der Quellenwerke ein. In

der Behandlung des Passivs geht Curme auf eine “eigenartige Passivkonstruktion” ein (S.

301-302):

A peculiar passive construction is often found, which deserves attention. It is formed by placing the noun which denotes the objective point of the activity in the acc. as the object of the verb bekommen, erhalten or kriegen (in popular language), and then making the real verb of the sentence an objective predicate in the form of a perfect participle: Er hat es gesagt bekommen = Es ist ihm gesagt worden.

Jedermann erhielt 15 Patronen zugezählt.110 […] Ich kriege meine Mühe redlich bezahlt.111 […] The passive idea here lies in the perf. part. The object may be suppressed, and the verb bekommen remains almost with the force of the passive auxiliary werden: Aber nicht doch – dafür bekomme ich ja von Fräulein Philippi bezahlt (Wildenbruch’s Die Waidfrau112) […] Ellen hatte auch beschert bekommen (Storm’s Unter dem Tannenbaum113, vol. I. p. 180). Seit zwei Jahren war jedoch ein neuer Inspektor da, und weil er verheiratet war, bekamen er und seine Frau und Kinder zwar mit beschert, zogen sich aber dann zurück, in der eigenen Wohnung sich allein noch einmal ein kleines (Weihnachts-) Bäumchen anzuzünden (G. Ompteda’s Eysen114, chap. vi). Compare the colloquial English construction He got paid for his trouble.

Curme bietet die bisher (1905) ausführlichste Diskussion der Konstruktion. Er nennt diese eine eigenartige Passivkonstruktion und beschreibt sie als eine transitive Fügung mit einem partizipialem Objektsprädikat(iv). Bei elliptischem Akkusativobjekt sei das Verb bekommen dem Passivauxiliar werden vergleichbar. Seine Beispiele und deren Analyse beinhalten aber mit Ausnahme von gesagt bekommen nur typische geben-Verben, eine weiter gehende Grammatikalisierung und die Bezeichnung der Verben der Konstruktion als Hilfsverben werden noch nicht thematisiert. Auch die nachstehend als “similar construction” gegebenen Beispiele bleiben bei der Interpretation der partizipialen Verbform als Prädikat. Curme macht – dies hat vermutlich auch Sanders mit ‘Anglizismus’ gemeint – auf die vergleichbare englische Fügung aufmerksam und verortet die Konstruktion anderen ähnlich in der Volkssprache.

110 Die Quelle konnte nicht ermittelt werden.

111 s. Fußnote 8.

112 Wildenbruch, Ernst von (1898): Tiefe Wasser. Fünf Erzählungen. [Erstauflage].

113 Storm, Theodor (1864): Unter dem Tannenbaum. [Erstauflage].

114 Ompteda, Georg von (1897): Eysen. Deutscher Adel um 1900. [Erstauflage].

Wilmanns, Wilhelm (1-21906): Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Dritte Abteilung: Flexion. 1. Hälfte: Verbum.

Unter “Syntaktische Verbindungen der Partizipia” schreibt Wilmanns vom prädikativen Gebrauch der Partizipia, die je nach Bedeutungsverhältnis mehr oder weniger eng mit dem Verb verbunden sind. Darunter seien Verwendungen, wo die Partizipien als selbständige Satzteile erscheinen, bei anderen, v.a. bei den zusammengesetzten Zeitformen verschmelzen sie zu einer Einheit. Einige Verben stünden diesen nahe, und “[i]n manchen andern Fällen zeigt sich die enge Verbindung eines Part. Prät. mit dem Verbum fin. nur in gewissen Redensarten: verloren gehen, […] geschenkt kriegen od. bekommen u.a.” (S. 108f). Wilmanns spezifiziert also diese feste Verbindung mit dem Partizipium nicht weiter und schreibt ihr keine Produktivität zu.

Wendt, Hermann (1912): Deutsche Grammatik mit Übungen zum Gebrauche in Schulen des Regierungsbezirks Düsseldorf und der angrenzenden rheinischen und westfälischen Gebiete unter besonderer Berücksichtigung der in der Mundart wurzelnden Sprachfehler auch für die Selbstbelehrung.

Wendt konzipiert seine Schulgrammatik mit Blick auf die praktischen Bedürfnisse der

“Sprachlehrlinge”: “Die Schwierigkeiten [die sich für den einzelnen Schüler ergeben] haben nun zum größten Teile ihren Grund in dem Einfluß der Mundart auf das Hochdeutsche”

schreibt Wendt, wobei er meint, die “Mundart [sei] durchaus berechtigt”, “[n]ur das eine kann nie und nimmer als zulässig gelten: die Einmischung mundartlicher Laute, Ausdrücke, Flexions- und Satzformen in das gebildete Hochdeutsch.” (S. V.) Unter dem Titel “Die beiden Geschlechter des Zeitworts” führt er Beipielsätze, sehr einfach gehaltene Definitionen (“Haben, sein und werden heißen Hilfszeitwörter.”, S. 33) und viele Übungsaufgaben an, darunter (ebd.):

5. Sage statt: “wir haben geschimpft gekriegt” immer nur: wir sind getadelt (oder: gescholten) worden, wir haben Schelte bekommen. 6. Wie sagt man in gutem Deutsch für: “wir haben es gesagt gekriegt?”

“wir haben es verboten bekommen?”, “hat Erna das mitgebracht bekommen?”

Die Konstruktion mit kriegen bereitet den Sprachlehrlingen in und um Düsseldorf anscheinend ernsthafte “Schwierigkeiten”, sie gebrauchen diese produktiv auch mit abstrakten Objekten. Man darf um 1900 eine weite Verbreitung der Fügung in jenen Gebieten annehmen.

Sütterlin, Ludwig (1924): Neuhochdeutsche Grammatik: mit besonderer Berücksichtigung der neuhochdeutschen Mundarten. Erste Hälfte. Einleitung.

Lautverhältnisse. Wortbiegung.

Sütterlins Neuhochdeutsche Grammatik für Gelehrte und Lehrer liegt im Jahre 1913 fertig vor, kann aber erst 1924 erscheinen. Sie stützt sich auf dataillierte Recherchen, denn der Verfasser hatte sich vorgenommen, “nicht nur die gelehrten Vorarbeiten seit der Zeit Jakob Grimms dafür durchzuarbeiten, sondern auch die Haupterzeugnisse des gesamten neuhochdeutschen Schrifttums” (S. VII). Sein Ziel formuliert er eingangs mit den Worten (ebd):

Die vorliegende Darstellung will unsere Muttersprache betrachten von ihrer Wurzel aus, den deutschen Mundarten. Sie verfolgt dabei aber nur vornehmlich, nicht ausschließlich die Eigenheiten unserer Schrift- und Umgangssprache hinab bis in die untersten Volksschichten; denn sie verzeichnet das, was den höheren Kreisen an mundartlichen Möglichkeiten abgeht, ebenso grundsätzlich, wie das, wo die Schriftsprache die Mundarten überragt.

Unter “landläufigen Umschreibungen” des Passivs bespricht er die Konstruktion im Abschnitt

”Für Wemfall und Wenfall nebeneinander” wie folgt (S. 462f):

Hängt in dem ursprünglichen Satz von dem Zeitwort gleichzeitig ein Wemfall und ein Wenfall ab (Ich gebe ihm das Buch), so bildet die Umgangsspr. dazu eine Leideform im Anschluß an Sätze wie Kriege ich die Birne geschenkt? und auf Grund des Nebeneinanders Ich gebe ihm das Buch gebunden – Er bekommt das B. g. (Möcht all das Zeug nicht, wenn ichs geschenkt kriegt’ Plundersw.115; verallgemeinert um eine Kanne Bier bezahlt zu kriegen Egm.116, sein Spiegelbild vorgehalten bekommen; dann auf Verhältnisse übertragen, wo der Wortlaut an sich keine Sinn mehr hat: Er bekommt das Buch genommen, Er bekam das Bein abgeschossen, Du kriegst die Unterstützung entzogen). In der Schriftspr. ist diese Ausdrucksweise noch selten (Die Schülerübungen bekommen auch einige Versuche zugewiesen LZ.117; Er bekam schon früh Altartafeln bestellt Springer118; Diese erlangten die 150 000 Gulden nachgelassen A. Böhtlingk119), dagegen in der Ma. stellenweise sehr beliebt (els. südrfr, er hot was mitgebrocht kricht, ich habs gsagt kricht, er krichts uffghowe; frf. er kriets net geglääbt ’ihm wird’s nicht geglaubt’).

115 Johann Wolfgang von Goethe (1773). Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Ein Schönbartsspiel. [Erste Fassung].

116 Johann Wolfgang von Goethe (1788). Egmont. [Entstanden zwischen 1775 und 1787].

117 Die Quelle konnte nicht ermittelt werden.

118 Siehe Fußnote 5.

119 Die Quelle konnte nicht ermittelt werden.

Wie schon in der zweiten Auflage seiner Grammatik (1907), bezieht Sütterlin die Konstruktion auf “Dativ-Verben”, hier präziser auf Verben mit Dativ und Akkusativ, welche zunächst (in Verbindung mit einem der Konstruktionsverben) ein Prädikat in Partizipform bilden. Dementsprechend enthalten alle angeführten Beispiele und Belege Verben in ditransitiver Verwendung. Als Ausweitung der Fügung werden hier neben Verben mit abstrakten Objekten mehrere nehmen-Verben erwähnt. Von den Konstruktionsverben wird erhalten nicht erwähnt, dafür findet sich aber neben bekommen und kriegen das außergewöhnlichere erlangen. Als Domänen für die Verbreitung nennt Sütterlin in erster Linie einige Mundarten, danach die Umgangssprache und schließlich die Schriftsprache, wo die Konstruktion noch selten ist.

Behaghel, Otto (1924): Deutsche Syntax: Eine geschichtliche Darstellung. Band. II. Die Wortklassen und Wortformen. B. Adverbium. C. Verbum.

Behaghel führt die Konstruktion unter dem Kapitel “Das prädikative Partizip des Präteritums”

im Abschnitt “Das Part. wird durch das Verbum mit einem Objekt in Beziehung gesetzt” an (S. 415f):

Bei Verben des Beko mmen s und Nehmens: […] Zincgref, Apophthegm. 4, 64 hatte ein Adelich Wapen geschenkt bekommen,120 Rabener 2, 225 ich kriege meine Mühe redlich bezahlt;121 […] er bekommt die Augen zugebunden, er kriegt eine heruntergehauen.

Neben der Angabe “prädikatives Partizip” stehen keine weiteren Ausführungen seitens des Autors. Der Beleg bei Zincgref ist die zur Zeit bekannte älteste Stelle mit der Konstruktion.122

Havers, Wilhelm (1931): Handbuch der erklärenden Syntax. Ein Versuch zur Erforschung der Bedingungen und Triebkräfte in Syntax und Stilistik.

Mit seiner Syntax hat Havers Studierende der alten und neueren Sprachen vor Augen und will

“lediglich Richtlinien für die Erklärung konkreter syntaktischer Erscheinungen” geben (S.

VII). Die hier in Frage stehende Erscheinung nennt er als Beispiel für eine Konstruktionsmischung (S. 82):

120 Zincgref, Julius Wilhelm (1626). Apophtegmata.

121 Siehe Fußnote 8.

122 Siehe Glaser (2005: 44f).

Man versteht darunter den Vorgang, daß zwei Parallelkonstruktionen, die sich gleichzeitig ins Bewußtsein des Sprechenden drängen, zu einer neuen Konstruktion verschmolzen werden, während nur eine zu gebrauchen beabsichtigt war. So nhd. dial. das gehört mein aus das gehört mir und das ist mein; meines Erachtens nach und nach meinem Dafürhalten; das Kind kriegt geschimpft aus das Kind kriegt Schimpfe und d. K. wird geschimpft […].

Das Beispiel verdeutlicht die von Havers angenommene Herleitung der Konstruktion aus der Kontamination: transitives Vollverb kriegen (+ deverbalem Substantiv Schimpfe im Akkusativ) und (werden +) passives Partizip von schimpfen.

Wunderlich, Hermann (1892, 21901, 31924): Der deutsche Satzbau.

Wunderlich schreibt im Vorwort in der Erstauflage seiner Syntax, dass er die vielfältigen Anregungen zum Satzbau “zum erstenmal im abgeschlossenen Zusammenhange für den deutschen Satzbau verwertet und zu neuen Ergebnissen verarbeitet” hatte (1892: IV, Hervorhebung im Original). Die zweite, vollständig umgearbeitete Auflage 1901 bezeichnete Behaghel “die erste und bis jetzt einzige wissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Syntax” (zit. nach Reis im Vorwort zur 3. Aufl. 1924: V). Im Vergleich zur (von Wunderlich selber verfassten) ersten und zweiten Auflage erscheint in der von Reis umgearbeiteten dritten Auflage eine kürzere Behandlung der Konstruktion im Kontext ‘Passiversatz’ (S. 200):

Weit verbreitet ist in hochdeutschen Mundarten das Zeitwort bekommen oder kriegen, und zwar ist letzteres in der echten Mundart sehr gebräuchlich, ersteres dagegen in der Umgangssprache der Gebildeten nicht selten. So heißt es in Mainz er hat es geschenkt gekriegt, nicht es wurde ihm geschenkt; hast du es gesagt kriegt, nicht ist es dir gesagt worden, und ähnliches findet sich auch in der Altenburger und Egerländer Mundart.

Hier wird die in anderen Werken eher durch die Beispiele implizierte Zuordnung der Konstruktionsverben zu den verschiedenen Varietäten explizit vorgenommen. Und der Autor nimmt neben dem Hinweis auf die Mainzer Mundart Bezug auf die Werke von Oskar Weise

“Syntax der Altenburger Mundart” und Josef Schiepek “Der Satzbau der Egerländer Mundart”.

In den folgenden eingesehenen Grammatiken war die Konstruktion nicht zu finden:

Bauer, Friedrich (121870): Grundzüge der neuhochdeutschen Grammatik für höhere Bildungs-Anstalten.

Hoffmann, Karl August Julius (91875, 11A1885): Neuhochdeutsche Elementargrammatik. Mit Rücksicht auf die Grundsätze der historischen Grammatik.

Behaghel, Otto (1886, 21902): Die deutsche Sprache.

Erdmann, Oskar (1886): Grundzüge der deutschen Syntax nach ihrer geschichtlichen Entwicklung.

Erste Abteilung. Gebrauch der Wortklassen. Die Formationen des Verbums in einfachen Sätzen und in Satzverbindungen.

Kern, Franz (21888): Die deutsche Satzlehre. Eine Untersuchung ihrer Grundlagen.

Lyon, Otto (31891): Handbuch der Deutschen Sprache. Erster Teil: Sexta bis Tertia.

Blatz, Friedrich (31895-96): Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache. Bd. I-II. Erster Band. Einleitung. Lautlehre. Wortlehre. Zweiter Band. Satzlehre (Syntax).

Lyon, Otto (41904, 61928): Deutsche Grammatik und kurze Geschichte der deutschen Sprache.

Hertzka, Alfred (1909): Studien zum Passivum im Neuhochdeutschen.

Blümel, Rudolf (1914): Einführung in die Syntax.

Paul, Hermann (1920): Deutsche Grammatik. Band IV. Teil IV: Syntax (Zweite Hälfte).

Heyse, Johann C. A.; Lyon, Otto (271908): Heyses Deutsche Grammatik oder Lehrbuch der deutschen Sprache. 27. Aufl. der Schulgrammatik Heyses. Vollständig umgearbeitet von Otto Lyon.

Delbrück, Berthold (1920): Grundlagen der neuhochdeutschen Satzlehre. Ein Schulbuch für Lehrer.