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IV. Empirische Analysen 86

3. Historische Quellenanalysen 122

3.1. Historische Quellenanalyse 1: Sprachratgeber um 1900 122

3.1.2. Sprachratgeber 124

Für die Definition von Sprachratgeber lehne ich mich im Wesentlichen an die Bestimmung von Greule an, der Sprachratgeber als Ober-, wie auch als Unterbegriff verwendet:

Es soll […] festgelegt werden, daß Sprachratgeber die zusammenfassende Bezeichnung einer Textsortengruppe ist, zu der unterschiedliche […] rezente und historische Textsorten gehören. Das die Textsortengruppe bestimmende Merkmal ist, daß der Autor des jeweiligen Sprachratgebers erkennbar Anweisungen gibt, die dem sprachwissenschaftlichen Laien beim Gebrauch der Muttersprache behilflich sein sollen. Diese Anweisungen nenne ich ‘laienlinguistische Anweisungen’.63 (2002: 590)

Als Sprachratgeber betrachtet er auch Grammatiklehrbücher bzw.

Gebrauchsgrammatiken im Gegensatz zu Grammatiken, des Weiteren schließt er Wörterbücher (alphabetisch angelegte Nachschlagebücher), Schulbücher i.e.S., rein

62 Unter Autoren verstehe ich im Allgemeinen diejenigen Personen, unter deren Namen das Werk zuerst erschienen ist, ungeachtet anderer Bearbeiter späterer Auflagen. In dieser Auszählung wurden weitere Werke eines Autors und die verschiedenen Auflagen desselben Werkes nicht mitgerechnet. Die Zahlen dienen lediglich der Orientierung, denn in der Untersuchung konnten nicht alle einschlägigen Arbeiten bzw. Auflagen gesichtet werden, und eventuell können Daten auch übersehen worden sein.

63 In (2009: 2336) fügt Greule hinzu: ein Sprachratgeber “kann auch als metasprachlicher Textproduktionstext bezeichnet werden”.

sprachkritische Literatur (sofern die Autoren nicht das antibarbarische Prinzip verwenden), reine Sammlungen von Musterbriefen, -reden, -gesprächen usw., und Loseblattsammlungen aus (ebd. und 1990: 240f). Entgegen seiner Ausgrenzung von alphabetisch angelegten Nachschlagebüchern beziehe ich aber drei solche Werke mit ein:64 Sanders’ “Kurzgefasstes Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten” sowie deren Folgeauflagen (so auch Meyer 1993:

228), Vernalekens “Deutsche Sprachrichtigkeiten und Spracherkenntnisse” (den die

“Bibliographie Deutscher Sprachratgeber (15.-19. Jh.)” wohl enthält65), sowie “Grunows Grammatisches Nachschlagebuch”. Ähnlich verfährt Antos (1996: 26), der zur “Laien- Linguistik” auch “die breite Palette sprachlicher Ratgeberliteratur: […] Lexika für alle sprachlichen Zweifelsfälle des Lebens [u.a.]” hinzurechnet und auch eines ihrer wesentlichen Merkmale benennt: “Der Begriff ‘Laien-Linguistik’ deckt sich dabei in weiten Teilen mit dem, was man ‘normative’ oder ‘präskriptive Linguistik’ nennen könnte.” (ebd.: 25).66 Sanders und Grunows Werke haben grammatische Zweifelsfälle im Auge, die Deutschen Schwierigkeiten bereiten und sollen “schnelle und sichere Auskunft erteilen” (Sanders 1876:

II, so schon 1872) “in der Form, die für ein Nachschlagebuch die zweckmäßigste ist, in der alphabetischen des Lexikons” (Grunow 1905: IV). Vernalekens Ratgeber beschränkt sich nicht nur auf grammatische Fragen. Zwei Beiträge aus Zeitschriften wurden auch aufgenommen, die beide an die “Sprachschäden” von Matthias zu knüpfen sind: bei dem eingangs zitierten Text aus der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins handelt es sich um Sprachberatung im engeren Sinn, während Kuntzes “Sprachliche Neubildungen”

laut Definition eigentlich nicht hier zuzurechnen ist, denn nach Bekundung seiner

64 Während es in Greule 1997 und 2002 den Anschein hat, die Ausgrenzung habe eher arbeitsökonomische Gründe: “Nicht aufgenommen werden: 1. Wörterbücher, d.h. alphabetisch angelegte Nachschlagewerke. Das bedeutet auch den schmerzhaften Verzicht auf alphabetisch angelegte Sprachratgeber wie die

‘Hauptschwierigkeiten’ der Dudenredaktion, die eine relativ lange Tradition haben.” (Hier steht der Verweis auf Sanders’ ‘Hauptschwierigkeiten’, 1997: 240, Hervorhebung von A.V.) und “[Die Untersuchung macht] in Anbetracht der Fülle der Textsorten und der Einzeltitel eine Eingrenzung erforderlich […] So muß zunächst auf die Berücksichtigung zum Beispiel von Sprachratgebern in Wörterbuchform […] verzichtet werden.” (2002:

590, Hervorhebung von A.V.), bildet diese auf der von Greule et al. erstellten Internetseite unter “Was sind Sprachratgeber” Bestandteil der Definition: “Während Antos eine weite Definition von ‘Sprachratgeber’ vertritt, schließt Greule (1997, 240f.) bestimmte Texte aus, um ein greifbares Profil dieser Buchsorte zu erhalten. Keine Sprachratgeber sind demnach: 1. Wörterbücher, d.h. alphabetisch angelegte Nachschlagewerke […]”

(Hervorhebung vom Autor).

65 Bearbeitet von Greule et al.

66 Antos definiert seinen an der zeitgenössischen Praxis orientierten Begriff “Laien-Linguistik” “in einem ersten Explikationsschritt” als “an die breite Öffentlichkeit gerichtete praxisorientierte Sprach- und

Kommunikationslehre zur Lösung muttersprachlicher Probleme” (1996: 13).

sprachpflegerischen Absichten67 beschreibt der Autor lediglich seine Beobachtungen bezüglich “Neubildungen” und zwar relativ unvoreingenommen. Trotz dieser definitorischen Schwierigkeit wird sein Beitrag hier aufgenommen, denn er liefert wertvolle Beobachtungen über die in Frage stehende Konstruktion, wenn auch nicht ganz nach antibarbarischer Art.

Den Beginn “der verstärkten und kontinuierlichen Publikation von Sprachratgebern”

setzt Meyer mit dem Erscheinen von Sanders “Kurzgefasstem Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten” 1872 an (1993: 227). Klein (2003: 26) schreibt: “Mit den Werken von Sanders, Wustmann, Andresen und Matthias lagen […] die maßgeblichen Werke vor, die […]

die Marksteine der Diskussion von Zweifelsfällen im deutschen Sprachkontext gesetzt hatten.”

Daniel Sanders: Kurzgefasstes Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache (91876) und Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache.

Große Ausgabe. (1880, 371908)

Sanders schreibt in seinem Vorwort, dass er mit “Rücksicht auf die Kürze” “sich nur auf die allernotwendigsten Hinweise” beschränkt und verweist für Ausführlicheres auf sein

“Deutsches Wörterbuch”(1860/1876: III).68 In seinem Sprachratgeber verzeichnet er unter dem Stichwort bekommen somit ausschließlich die Konstruktion mit dem Partizip Perfekt (bei erhalten und kriegen stehen keine weiteren Belege, nur Verweise u.a. auf bekommen) und so bleibt es ohne wesentliche Veränderung bis in die von Dumcke neu bearbeitete Auflage 1908 (Hinzufügungen im Original):

etwas geschenkt [=als Geschenk] bekommen; ich bekomme [mir werden] die Bücher zugeschickt […]

Danach bei einigen verallgemeinert (ohne hervortretenden Begriff des Empfangens […]), sogar zum Schluß bekomme ich [= wird mir] nach Neujahr wieder abgenommen, was ich zu Weihnachten erhalten habe […],69 so auch kriegen und erhalten, als nicht nachahmenswerter Anglizismus […].

67 Vgl. Stellen wie: “Aber der Verbreitung solcher Wildlinge, die fast alle einem abgestumpften Sprachgefühl ihr Dasein verdanken, läßt sich entgegentreten [es ist] die Pflicht der Schule, über der Reinheit unserer Sprache zu wachen […].” (1891: 37).

68 Belege aus Sanders’ “Wörterbuch der deutschen Sprache” werden bei mehreren Autoren zitiert u.a. bei Wellander (1964) und Eroms (1978 und 1990).

69 Presber, Hermann (1859). Wolkenkukuksheim. Humoristisches Genrebild. Frankfurt a. Main: Meidinger, 159.

(Zitiert schon in Sanders Wörterbuch.)

In knapper Form wird hier das Wichtigste über die Konstruktion zusammengefasst: die Kombination mit dem vielleicht häufigsten Verb in partizipialer Form zugeschickt, die Möglichkeit der Verallgemeinerung der Bedeutung von bekommen, sowie deren Ausweitung auch auf Verben des Nehmens, der Verweis auf die Verwendung von kriegen und erhalten in der selben Konstruktion und zum Schluss die normative Vorgabe “nicht nachahmenswert”.70 Der Hinweis auf die angenommene Herkunft der Konstruktion als “Anglizismus” wird nur bei Sanders ausdrücklich erwähnt, zuerst in seinem großen Wörterbuch.

Kuntze, [F.](1891): Sprachliche Neubildungen im Südwesten.

Unter diesem Titel bespricht Kunze verschiedene Erscheinungen in seinem Aufsatz, die seiner Ansicht nach eine Gefahr “wider die Sicherheit [der] Schrift- und Gemeinsprache” bedeuten und für welche er die Belege aus der Schülersprache sowie aus der Beobachtung der oberrheinischen Mundarten gesammelt hat (S. 37). Wenn seine Zusammenstellung auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, “so enthält sie doch die wichtigsten Neubildungen, die sich innerhalb der rheinisch-schwäbischen Mundart allmählich vollzogen haben”. Diese seien “zumeist auch dem Gebildeten geläufig und somit auf dem Wege zur Schriftsprache”

(ebd.).

Eine eigenartige Erweiterung der Partizipialkonstruktion findet sich bei dem Zeitwort bekommen. Der Ausdruck: ich habe das geschenkt bekommen ist allgemein üblich. Aber fremdartig klingt schon: ich habe das gesagt bekommen, kurz das Partizipium tritt auch da ein, wo das Verbum in figürlicher Bedeutung gebraucht wird. So z.B.: wir haben das aufgeschrieben, erzählt, verboten bekommen, ja im Eifer des Gefechtes fallen Ausdrücke wie der folgende, den ich einmal aus gebildetem Munde gehört habe: er hat das Vergnügen entzogen bekommen. In der Schriftsprache dürfte der figürliche Gebrauch so ziemlich auf die Phrase: etwas (es) satt bekommen beschränkt sein, wo freilich “es” eigentlich als Genitiv zu nehmen ist. (S. 43)

Kunze registriert die Konstruktion und beschreibt sie als eine erweiterte Partizipialfügung (?), wo das Partizip teilweise schon mit der im übertragenen Sinne

70 Mit Bezug auf Sanders’ Wörterbuch schreibt Haß-Zumkehr (2001: 151f): “Sanders Hauptinteresse galt […]

den usuellen Regularitäten, die sich durch Beobachtung des Sprachgebrauchs erkennen, beschreiben und dann als Richtschnur im Sinne einer Norm anwenden lassen.” und über seine Empfehlungen zum Sprachgebrauch:

“Ein Sprachrichteramt sprach er dem Lexikografen grundsätzlich ab”.

verwendeten bekommen auftritt, d.h. mit abstrakten Objekten, bzw. mit einem nehmen-Verb i.w.S. Die letztgenannte Konstruktion klingt ihm sonderbar aus “gebildetem Munde” und der

„figürliche Gebrauch” scheint ihm in der Schriftsprache nur in der erwähnten festen Verbindung zu existieren.

Theodor Matthias: Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die

Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. (1892, 21897,

31906, 51921)71 und Kleiner Wegweiser durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. (1896)

und

Sprachberatung der Redaktion der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (1908)

Als Matthias sein Buch 1892 veröffentlicht, kann er schon auf eine Anzahl ähnlicher Werke zurückblicken, denen er gelegentlich auch “geeignete Beispiele” entnimmt, er will jedoch

“mehr als die Vorgänger die rechte Mitte zwischen der beschreibenden und der gesetzgebenden Grammatik […] finden” (1892: IV). Bei Sanders, Andresen und Keller kritisiert er vor allem, dass sie “den Lesern überlassen, zwischen dem, was nachahmenswert, und dem, was möglich ist, selber die Grenze zu ziehn” und

der Ratsuchende [sieht sich] oft vergebens nach einem entschiedenen “Bis hierher und nicht weiter!”

um [denn auch gegenteilige Beispiele werden aufgezählt] ohne daß gesagt wird, warum und wieweit der neueren, freieren Fügung nachgegeben werden könne” (ebd. IVf).

Bei alledem ist er sich aber der Unmöglichkeit bewußt, wegen ihrer Veränderlichkeit grammatische und stilistische Gesetze “für lange Zeiträume zutreffend zu geben” (ebd. III).

Die Belege für die Konstruktion bei Matthias haben in spätere Werke Eingang gefunden und auch die Sprachberater der oben zitierten Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins beziehen sich bei ihren Ausführungen explizit auf die folgende Stelle:

Eine ähnliche unnütze Vermischung aktivischer und passivischer Ausdrucksweise ist die Art, wie bekommen (oder erhalten) immer häufiger zur Bildung der Leideform verwendet wird: er hat es gesagt bekommen statt es ist ihm gesagt worden. Selbstverständlich ist diese Aussageweise um so

71 Auf Matthias beziehen sich schon Ebert (1978) und Eroms (1978).

unnatürlicher, je weiter der Sinn des Satzes von der eigentlichen Bedeutung des Wortes bekommen abführt. Also während man sich an satt bekommen neben satt haben, an mitgebracht bekommen nicht stoßen wird, kann einem die Drohung eines Schulleiters: sonst wird er das Stipendium entzogen bekommen, nie erträglich und nur aus der schlimmen Verschwommenheit unserer – höheren Sprache erklärlich erscheinen. (1897: 112)

Während der Haupttext von der ersten Auflage an im Wesentlichen unangetastet bleibt, verändert Matthias ab 1897 seine frühere Behauptung in der Fußnote “Leider ist es ein zu schöner Irrtum, wenn Kuntze […] den Mißbrauch nur für oberrhein.-schwäbisch hält; er ist leider auch gut sächsisch” (1892: 125) in “leider allgemein verbreitet” (1897: 112) und vermehrt seine Belege um zwei literarische:

In der Tägl. Rundschau schreibt so selbst F. Dahn und auch ein anderer Mitarbeiter: Herr Hofopernsänger Sch. hat … die Rolle des Beckmesser zugeteilt erhalten. Rosegger schreibt: Zwei Kindlein, die … Milchsuppe in den Mund gegossen bekamen72, und Ant. Springer gar: er bekam (statt:

bei ihm wurden) schon frühzeitig Altartafeln bestellt73. Bei aller Anerkennung der Thatsache, daß die deutsche Sprache das Aktiv bevorzugt, kann man doch nicht bis zur Duldung auch widersinniger Umschreibungen des Passivs gehn.

Im Haupttext schreibt Matthias über die “Vermischung aktivischer und passivischer Ausdrucksweise” und dass “bekommen (oder erhalten) […] zur Bildung der Leideform verwendet wird”, an der hier zitierten Stelle scheint er sich für die aktivische Deutung der Konstruktion entschieden zu haben, als er seinem Unbehagen über die “widersinnige”

Konstruktion (ab der zweiten Auflage) noch deutlicheren Ausdruck verleiht. Diese letztere Auffassung vertritt dann in der Folge der Sprachberater der Redaktion des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, wenn er schreibt (Zeitschrift d. ADSV 1908: Sp. 158):

Mit Recht tadeln Sie den Mißbrauch in der Ersetzung der Leideform durch eine aktivische Wendung mit “bekommen oder erhalten”, z.B. er hat das Geld ausgezahlt erhalten (statt: ihm ist das Geld ausgezahlt worden) u. ä. Es ist gewiß im allgemeinen lobenswert, wenn man aktivische Fügungen bevorzugt; ja es kann unter Umständen geboten sein, jene an sich richtige Umschreibung anzuwenden, z.B. wenn die Einheit des persönlichen Satzgegenstandes (Subjektes) gewahrt werden soll, das bloße

“erhalten” aber nicht bezeichnend genug erscheint, z.B. “er hat um das Geld gebeten, es aber noch nicht bekommen, wenigstens noch nicht ausgezahlt bekommen, sondern nur eine Anweisung darauf erhalten”. Ein solcher Satz mag also unbehelligt durchgehen. Sonst aber sollte man schlicht sagen: “ihm

72 Rosegger, Peter R. (1893): “Der Kickel. Eine Erzählung aus der Waldheimat.” In: Heimgarten 17: 267.

73 Springer, Anton (1892). Albrecht Dürer. Berlin: Grote, 162.

ist das Geld ausgezahlt worden” oder: “er hat das Geld erhalten”. Immerhin ist auch hier das

“ausgezahlt erhalten” nicht denkwidrig; denn der Betreffende “er hält” doch das Geld, das ihm ausgezahlt wird, wirklich.

Matthias und in Anlehnung an ihn der Sprachberater der Redaktion halten fest an der primären, transitiven Vollverbbedeutung von bekommen (erhalten) und akzeptieren die Verwendung einer weiteren, partizipialen Verbalform nur als verdeutlichendes Prädikat dazu.

Verwerflich sei nur ein von dieser vordergründigen Bedeutung abführende Verwendung.

Damit wird Matthias seiner eigenen Forderung an einen Sprachratgeber gerecht, indem er deutlich macht, “wieweit der neueren, freieren Fügung nachgegeben werden könne”, ein eigenes (Sprach-)Leben spricht er dieser Konstruktion somit ab. Und ihm folgt auch die Redaktion (ebd.):

Der Mißbrauch beginnt erst in den Fällen, wenn jene Umschreibung ganz sinnwidrig auch da angewandt wird, wo von einem „Erhalten” nur gezwungen oder überhaupt nicht die Rede sein kann, z.B. “er hat es gesagt b eko mmen”, “er bekam schon frühzeitig Altartafeln bestellt” […], oder gar, wie ein Schulleiter drohte, “sonst wird er das Stipendium entzo gen beko mmen” (!). Das sind böse Verirrungen des Sprachgebrauches, denen kräftig entgegengetreten werden sollte. […] Es mögen auch Wendungen wie “Schläge, eine Strafe, Belohnung bekommen” (= geschlagen, bestraft, belohnt werden) zur Ausbreitung des Übels beigetragen haben, aber zur Rechtfertigung dienen auch sie nicht.

1896 verfasst Matthias seinen “Kleinen Wegweiser durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs”, eine gekürzte und vor allem für schulische Verwendung konzipierte Fassung seines “Sprachlebens”, aber auch geeignet als

“zuverlässiger und handlicher Führer” für “alle[] schon im Leben Stehenden” (S. 6). Die Materialgrundlage bilden “Beobachtungen im deutschen Unterrichte an Gymnasien” und

“Verstöße, die [er] in zwölfjährigen Sammlungen aus Zeitungen und aus Werken auch der führenden Schriftsteller gebucht” hat (S. 5f). Unter “Hilfszeitwörtern” fügt er nach einer kurzen Abhandlung der Leideform in etwas kleinerem Druck die folgende Ausführung an:

Durchaus zu meiden ist die breitspurige Umschreibung der Leideform mit bekommen und erhalten.

Also nicht: Wir haben nichts gesagt bekommen (erhalten), sondern: uns ist nichts gesagt worden. Auch nicht mit Anton Springer: Wohl bekam er schon frühzeitig Altartafeln bestellt, noch: vorausgesetzt, daß wir die Gegenstände der Vorlesungen von tüchtigen Männern überliefert empfingen.”74

74 Springer, Anton (1892). Aus meinem Leben. Berlin: Grote, 25.

Der Kürzung gemäß bespricht er “ohne alle Erwägungen des Für und Wider lediglich die Regeln” “mit knappen Beispielen” (S. 6). Interessant ist, dass sein zweites Beispiel eigentlich gar nicht eine der kritisierten Verben bekommen und erhalten enthält, sondern für dieselbe Konstruktion einen exotischen Beleg bringt: überliefert empfingen.

Alexander Bennewitz (21908, 41920): Die Schwierigkeiten unserer Muttersprache.

Übersichtliche Zusammenstellung der zweifelhaften Fälle im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauche, mit besonderer Berücksichtigung den kaufmännischen Sprache. (Erstauflage 1898)

Nach Bennewitz (Vorwort 1908: o.S.) zeichnet sich sein Sprachratgeber unter den vielen ähnlichen Büchern dadurch aus, dass es bestimmt ist, “die allenthalben erwachende Teilnahme für die gesunde Weiterentwicklung [der] Muttersprache auch in die Kreise der Kaufmannschaft zu tragen”. Dementsprechend sind die meisten Beispiele “Lehr- und Handbüchern der deutschen Handelssprache und des kaufmännischen Briefwechsels entnommen”. Er enthält “nur die wirklich schwierigen und zweifelhaften Fälle” wobei die Berichtigung stets angeführt ist um Mißverständnisse zu vermeiden. Und der Verfasser geht noch einen Schritt weiter: “wo verschiedene Formen nebeneinander berechtigt sind, erhält in der Regel eine den Vorzug vor den übrigen” (Hervorhebung im Original). Bei der Besprechung des Passivs wird kriegen als Hilfsverb explizit als fehlerhaft bezeichnet: “Ganz falsch ist: Ich kriege (statt: werde) geschlagen”. Etwas weiter kommt Bennewitz ausführlicher auf dieses Thema zurück indem er schreibt (S. 82f):

Durchaus verwerflich ist die weitschweifige Umschreibung der Leideform mit bekommen, erhalten oder gar kriegen. Also schlecht: W ir haben darüber nichts von Ihnen geschrieben bekommen oder erhalten (statt: uns ist von Ihnen nichts darüber geschrieben worden, oder besser in der Tätigkeitsform: darüber haben Sie uns nichts geschrieben); haben Sie endlich Ihre Wünsche erfüllt bekommen? (statt: sind Ihre Wünsche endlich erfüllt worden, oder: hat man Ihre Wünsche endlich erfüllt?).

Nach dem Bann der Konstruktion für die Verwendung in der kaufmännischen Kommunikation stempelt er sie als volkssprachlich ab: “Ausdrücke wie: Ich bekomme (oder:

kriege) die Zeitung gebracht (statt: ich erhalte oder: man bringt mir die Zeitung ins Haus) u.

ähnl. gehören der Volkssprache an.” (S. 83)

In den weiteren eingesehenen Sprachratgebern (angeführt nach der Jahreszahl der hier besprochenen jeweils frühesten Auflage) fand sich die Konstruktion nicht:

Grube, August. W. (1876). Streiflichter auf die Wandlungen und Schwankungen im neuhochdeutschen Sprachgebrauch.

Lehmann, August (1877). Sprachliche Sünden der Gegenwart.

Andresen, Karl G. (21881, 41886, 121923/1967). Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit im Deutschen.

(Erstauflage: 1880)

Schroeder, Otto (21891). Vom papiernen Stil.

Wustmann, Gustav (1892, 41908, 71917). Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen.

Dunger, Hermann (1899, 21909). Wider die Engländerei in der deutschen Sprache.

Vernaleken, Theodor (1900). Deutsche Sprachrichtigkeiten und Spracherkenntnisse. Zweifelhafte Fälle, unsichere Begriffe, deutsche Personennamen und brauchbare Fremdwörter in einer alfabetisch geordneten Auswahl.

Grunow, Friedrich W. (1905). Grunows grammatisches Nachschlagebuch. Ein Wegweiser für jedermann durch die Schwierigkeiten der deutschen Grammatik und des deutschen Stils.

Schönhage, August (21910). Bergische und andere Sprachsünden. (Erstauflage ca. 1897)

Weise, Oskar (31910, 51923). Deutsche Sprach- und Stillehre. Eine Anleitung zum richtigen Verständnis und Gebrauch unserer Muttersprache.

Engel, Eduard (1918). Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.

In Schönhages Schrift “Bergische und andere Sprachsünden”, nach der “ein großer Teil der Verstöße gegen den guten Sprachgebrauch auf den Einfluß der Mundarten zurückzuführen”

ist (Vorwort 1910: o.S.) findet sich nicht die hier untersuchte, aber eine formal gleiche (resultative) Konstruktion mit kriegen und Partizip Perfekt, in der das Subjekt Agens und nicht Rezipient ist.75 Unter dem Titel “Falsche Redewendungen” steht (ebd. S. 25f):

75 Siehe Fußnote 1.

“Ich habe nichts getan gekr iegt” bedeutet: Ich bin mit meiner Arbeit nicht vorwärts gekommen; ich habe Aufenthalt gehabt; es hat nicht geräumt. Hier haben wir ein Beispiel von der wörtlichen Übertragung der plattdeutschen Ausdrucksweise ins Hochdeutsche […].

Engel thematisiert in seinem Buch “Gutes Deutsch” die Konstruktion auch nicht, aber er scheint keine ersthaften Bedenken gegen sie zu haben, denn er verwendet sie selbst in seinem Werk, das laut Titel “Ein Führer durch Falsch und Richtig” ist: “Die wichtigste, an die Spitze jeder Betrachtung gehörende Frage ist auch hier nicht die: Wie soll geschrieben werden, um keinen ‘Fehler’ angestrichen zu bekommen?” (1918: 287).