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IV. Empirische Analysen 86

3. Historische Quellenanalysen 122

3.1. Historische Quellenanalyse 1: Sprachratgeber um 1900 122

3.1.4. Zusammenfassung 138

Hinweise: Der Ratsuchende Herr H. schickt seine Frage an die Redaktion der ZdADSV (1908) aus Köln-Braunsfeld. Dies bedeutet natürlich nicht unbedingt, dass er den “Mißbrauch in der Ersetzung der Leideform” auch auf heimatlichem Boden vernommen hatte, doch scheint es plausibel. Die von den Sprachratgebern zitierten Belege geben punktuell Aufschluss über die Verwendung der Konstruktion und diese können auch nur individuelle Prägungen sein. Dennoch lassen die biographischen Daten vage Rückschlüsse auf die regionale Verbreitung zu. Demnach kommen Rheinfränkisch, Schwäbisch (Presber), Steirisch (Rosegger) und bei Springer verschiedene dialektale Einflüsse in Frage.83 Und die von Matthias 1892 zitierten Journalisten der Täglichen Rundschau arbeiten (wahrscheinlich) in Berlin. Zusammenfassend könnte man neben die primären Angaben über rheinisch- schwäbische und obersächsische Gebiete die sekundären Hinweise auf weitere Gebiete des Westmitteldeutschen, auf das Steirische sowie Berlinerisch stellen. Bennewitz’ Beispiele schließlich legen die Vermutung nahe, die Konstruktion sei unter den Kaufleuten sehr üblich (wenn die Rüge schon so ausgiebig ist), wobei die Frage erst offen bleiben muss, ob diese beinahe formelhaften Wendungen eine Art Berufsjargon darstellen, mit sozialer Schicht zu tun haben, oder (wenn das auch weniger wahrscheinlich ist beim Hinweis auf Handbücher und Korrespondenz) im Dialekt wurzeln.

weitgehend akzeptierten Konstruktion ab. Dies entspricht dem heute meistverbreiteten Typ84 und der gemeinhin angenommenen Ausgangskonstruktion des Rezipientenpassivs.85 Davon abweichende semantische und syntaktische Strukturen werden hingegen – vor allem in der Schriftsprache – von Sprachpflegern kritisiert. Sie gelten als stärker grammatikalisierte Formen. In den hier besprochenen Belegen finden sich Beispiele für die folgenden Erscheinungen:

- Für die Passivinterpretation typisches Stellungsverhalten in der rechten Satzklammer: bei Verbletzt-Stellung steht das Partizip unmittelbar vor dem finiten Verb (12) und (16).86

- Abstrakte Objekte und Fügungen mit nehmen-Verben. Daraus ergeben sich verschiedene semantische Rollen für das subjektivierte Dativobjekt: neben ‘Rezipient’ z.B.

(2) (bei Konkreta als Akkusativobjekte) auch ’Benefaktiv’ (12), ’Adressat’ (5) (bei – oft impliziten – Abstrakta) und ’Malefaktiv’ (3). Die Möglichkeiten sind ähnlich breit gefächert wie in der Gegenwartssprache.87 Abstrakte Objekte sind hier ab 1891 und gleich in drei Kategorien (darunter auch mit einem nehmen-Verb) belegt. Diese Jahreszahl dürfte einen relativ verlässlichen Zeitpunkt in der Entwicklungsgeschichte der Konstruktion markieren, denn in ihm hat man eine sprachlebens-nahe Dokumentation darüber, dass die Konstruktion mit abstrakten Objekten häufig auftritt und – zumindest beim Lehrerstand – auf Kritik stößt.88 Nehmen-Konstruktionen in konkreter Verwendung sind ab 1859 bezeugt, der Beleg (3) bei Sanders scheint zugleich das älteste in der Fachliteratur diskutierte Beispiel zu sein,89 wenn

84 Siehe u.a. Zifonun et al. (1997: 1825) und Lenz (2008: 178).

85 Ähnliche Ansichten sind implizit schon bei Sanders und Kuntze zu finden (vgl. oben), wenn auch keine gesicherten Befunde vorliegen. Glaser (2005: 45) schreibt: “über eine Abfolge möglicher Konstruktionstypen im Sinne der Grammatikalisierungstheorie kann auf dem Hintergrund dieser Beleglage [vgl. Fußnote 24 oben]

vorerst nur spekuliert werden”.

86 Vgl. u.a. Reis (1985) und Zifonun et al. (1997).

87 Vgl. u.a. Eroms (2000), Lenz (2008), Szczepaniak (2009). Askedal (2005: 225) schreibt: “Derart variierende Rollenoptionen sind klare Grammatikalisierungserscheinungen.”

88 Etwas über den engen Rahmen dieser Untersuchung hinaus weist die Tatsache, dass Matthias’ Handbuch als Nachschlagewerk in der Redaktion der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins vorliegt und – die Konstruktion betreffend – zustimmend rezipiert wird. Auch Hermann Wunderlich übernimmt seinen Beleg mit entzogen bekommen in sein Buch “Unsere Umgangssprache in der Eigenart ihrer Satzfügung” (1894), wenn auch mit anderen Akzenten in der Auslegung. Schließlich ist zu erwähnen, dass Matthias’ “Sprachleben” 1930 die 6.

Auflage erlebt.

89 Vgl. u.a. Wellander (1964), Eroms (1978).

beim Hinweis auf die Markiertheit der Konstruktion in der Gegenwartssprache auf das Alter dieser Erscheinung auch selten hingewiesen wird (s. aber Glaser 2005: 45).90

- Verben mit fehlendem Dativobjekt: schlagen und bestellen.91

- Ein weiteres Verb, empfangen schließt sich den drei bekannteren Verben kriegen/bekommen/erhalten in der Konstruktion an, obwohl dies nur ein Einzelbeleg ist.

Wenn die Liste auch nicht alle möglichen Grammatikalisierungserscheinungen der Konstruktion erschöpft, zeigen sich in dem untersuchten Korpus doch mehrere von ihnen, die gewöhnlich als Anzeichen fortgeschrittener Entwicklung interpretiert werden.

Auch die unterschiedlichen Ansichten über den Status der Konstruktion im grammatischen System sind nicht neu: schon bei den hier eingehender besprochenen fünf Autoren gehen die Meinungen auseinander: sie variieren von prädikativen Interpretationen bis zur Einordnung unter den Passivhilfsverben.

In der Schriftsprache ist die Konstruktion heute über das ganze deutsche Sprachgebiet verbreitet, dabei werden aber unterschiedliche Grade der Verwendungshäufigkeit angenommen.92 Dialektal ist die Fügung ebenfalls in allen Regionen belegt, in erster Linie im Mitteldeutschen, es gibt Hinweise auf Vorkommen im Niederdeutschen und im Oberdeutschen scheint sie weniger (und vermutlich mit Bildungsrestriktionen) verwendet zu werden.93 Neuere Untersuchungen benennen das Mitteldeutsche bzw. das Westnieder- und Westmitteldeutsche als areale Kernlandschaft des Rezipientenpassivs “von der ausgehend es sich aktuell horizontal-areal in der Fläche als auch vertikal in Richtung Standardsprache ausweitet” (Lenz 2008: 178).94 Aber schon um 1900 ertönt die sprachpflegerische Klage aus mehreren Gebieten des Deutschen. Belegt ist die Konstruktion vom Westmitteldeutschen bis ins Südbairische, vom Oberrheinischen bis ins Obersächsische und Berlinerische, wobei

90 Vgl. u.a. Eroms (2000: 416): “Allerdings ist der Auxiliarisierungsprozess insofern noch nicht ganz zum Abschluss gekommen, als […] hin und wieder Scheu besteht auch Sätze wie [Er bekam die Unterstützung entzogen.] zu bilden”.

91 Zu Verben ohne Dativobjekt im Aktivsatz schreibt Lenz (2008: 175): “Auf der Basis der skizzierten

synchronen Variation werden auf einer dritten Stufe der Grammatikalisierung [nach Stufe 1: Rezipient und Stufe 2: Benefizient/Malefizient – im Aktivsatz alle dativisch] auch Passivsubjekte mit den genannten thematischen Rollen möglich, denen im Aktivsatz Akkusative zugrunde liegen.” Diese sollen also weit vorangeschrittene Grammatikalisierungsstufen darstellen.

92 Vgl. Glaser (2005: 46).

93 Vgl. Eroms (1978), Glaser (2005).

94 Vgl. Glaser (2005) und Lenz (2008 und im Druck).

schon vielfach der tatsächliche Gebrauch in der Schriftsprache beklagt wird, oder erst der Übergang dorthin befürchtet wird.