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Zusammenfassung: Historische Quellenanalyse 158

IV. Empirische Analysen 86

3. Historische Quellenanalysen 122

3.3. Zusammenfassung: Historische Quellenanalyse 158

Die Rundschau über die Konstruktion mit bekommen/erhalten/kriegen + Partizip Perfekt hat ergeben, dass diese um 1900 jedem zweiten Autor, der wissenschaftlich oder populär über Sprache schreibt, bekannt ist. Während Sprachratgeber mehr oder weniger energisch von ihrem Gebrauch abraten und die Erscheinung als Verschwommenheit, Missbrauch, nicht nachahmenswert bis verwerflich verurteilen, enthalten sich (wissenschaftliche) Grammatiken (und Wörterbücher) natürlich solcher Werturteile, wie dies Matthias’ berühmtes Beispiel illustriert, hier zuerst mit seinem Kommentar, danach in Wunderlichs Version:

[…] kann einem die Drohung eines Schulleiters: sonst wird er das Stipendium entzogen bekommen, nie erträglich und nur aus der schlimmen Verschwommenheit unserer – höheren Sprache erklärlich erscheinen. (Matthias 1892: 125)

Wenn nun vollends ein Lehrer droht: Sie werden Ihr Stipendium entzogen bekommen, so zeigt sich deutlich, wie die neue Funktion den alten Bedeutungsgehalt von Grund aus verschoben hat.

(Wunderlich 1894: 218)

Wie auch das obige Beispiel zeigt, werden von den Sprachberatern am heftigsten die Konstruktionen mit nehmen-Verben kritisiert. Vier von fünf Autoren nennen diesen Typ.

Beleg hierfür findet sich aber nur in einem der fünf Wörterbücher (abgenommen

bekommen123) und dieser stammt aus der Belletristik124. Noch weniger beachten ihn Grammatiker: von den zwölf Autoren, die die Konstruktion anführen, nennen nur Wunderlich (1894) und Sütterlin (1900, 1924) Verben des Nehmens: entzogen bekommen bzw.

genommen, [Schuhe] ausgezogen und [Bein] abgeschossen bekommen sowie entzogen kriegen. Bezeichnenderweise liegt in ihren Arbeiten das (Haupt-)Augenmerk auf Umgangssprache bzw. Mundart. Während Grammatiken konservativ wirken und somit zusammen mit Wörterbüchern dem tatsächlichen Sprachgebrauch nachhinken, vermitteln Sprachratgeber ein sprachlebens-nahes Bild von aktuellen Tendenzen.

Zweifelsfälle, Schwankungen oder Verstöße werden aber in Grammatiken kaum erfaßt, oder, falls dies doch der Fall ist, unter der Rubrik Ausnahmen verbucht bzw. in Anmerkungen untergebracht. Für die Rekonstruktion des Sprachwandels, wie er wirklich verlaufen ist, sind aber diese Phänomene von besonderer Bedeutung. (Cherubim 1983: 184)

Alle Sprachratgeber-Autoren, welche die Konstruktion behandeln, führen Fügungen mir bekommen an, vier von fünf verzeichnen erhalten, nur zwei von ihnen aber kriegen. Dabei steht kriegen in den Wörterbüchern mit vier (aus fünf) Nennungen gleich vertreten neben bekommen bei drei Belegen von erhalten. Diese letztere fehlt hingegen von einer Ausnahme abgesehen in den Grammatiken: von zwölf Autoren nennen elf kriegen, zehn bekommen und eines nur erhalten.

bekommen erhalten kriegen aus insgesamt

Sprachratgeber 5 4 2 5

Wörterbücher 4 3 4 5

Grammatiken 9 1 11 12

Tabelle 21: Die Nennung von bekommen/erhalten/kriegen in den einzelnen Gruppen

Hier sind die auffällig kleinen Zahlen 1 und 2 erklärungsbedürftig. Zuerst zum letzteren. Die kriegen-Fügungen sind in Wörterbüchern und Grammatiken gut vertreten. Unter den Wörterbüchern bringen Heyne geschenkt, Paul auch noch bezahlt kriegen, und der Grimm darüber hinaus weitere andere geben-Verben, u.a. die bei Sanders genannten beschert und

123 Presber, Hermann (1859). Wolkenkukuksheim. “Zum Schluß bekomme ich nach Neujahr wieder abgenommen, was ich zu Weihnachten erhalten habe.”

124 Die Belege aufgesagt kriegen (1838), verboten (1850-51) und gekündigt (1858) erhalten zähle ich zu den Verben des Gebens mit der semantischen Rolle Malefaktiv.

belohnet kriegen sowie gesagt kriegen. Die genannten Verbindungen zeigen eine feste Verankerung der Konstruktion mit geben-Verben, auf eine Geläufigkeit im Alltag dürfte ihre Nennung unter den Verwendungsbeispielen deuten: Grimm (1873), Heyne (1890-92), Paul (1897). In den Grammatiken bezeichnen sechs von zwölf Autoren die Konstruktion insgesamt als umgangssprachlich (volkssprachlich) und/oder mundartlich. Dabei steht in Wörterbüchern häufig der Vermerk, kriegen sei auf den niederen Stil beschränkt, so z.B. in Windekildes Handwörterbuch (1896): “in edlem Stil ist das Wort zu meiden”. Das erklärt, warum kriegen in den Sprachratgebern unterrepräsentiert ist. Und auch diese zwei Nennungen verheißen nichts Gutes: bei Sanders steht “nicht nachahmenswert” und bei Bennewitz “ganz falsch” für kriegen als Hilfsverb, und “durchaus verwerflich” für die Konstruktion überhaupt. Dennoch weiß Sanders (1860/1876) Beispiele zu nennen, “um das durchaus nicht seltne Vorkommen dieses in der Volksspr. so allgm. üblichen Worts auch in der gew.[öhnlichen] Schriftspr. zu belegen”.

In den hier besprochenen Werken zeigt sich folgendes Bild: in drei von fünf Wörterbüchern (Sanders, 1860; Heyne 1890-92; Muret/Sanders 1910) stehen Verwendungsbeispiele für die Fügung mit erhalten: zugeschickt, bei Heyne auch übersendet erhalten – also typische geben-Verben zur Veranschaulichung und Nachahmung – und Sanders führt weitere literarische Belege an: verboten, geboten, gekündigt und überliefert erhalten. Die ersten drei finden sich in Gutzkows Werken (1850-58). Sieht man deshalb vom untypischen verboten und gekündigt zunächst ab, gibt es Hinweise auf die sprachübliche Verwendung der Konstruktion mit Verben des Gebens um 1850. Wenn man die Verzögerung, mit der Wendungen der Alltagssprache in Wörterbüchern erscheinen (bei Heyne z.B. dauerte die Materialsammlung zehn Jahre, s.o.) hinzurechnet, könnte man von einer festen Verankerung der erhalten-Konstruktion um spätestens in den 1880-er Jahren ausgehen.

Abgesehen von Sanders’ “Hauptschwierigkeiten” sind die Sprachratgeber jüngeren Datums (ab 1891). Von den fünf Autoren nennen vier erhalten: gesagt e. (Matthias 1896), [Rolle] zugeteilt e. (Matthias, Beleg vor 1897), geschrieben e. (Bennewitz 21908), ausgezahlt e. (ZdADSV 1908), während Sanders hier (91876) lediglich auf die Bildbarkeit der Struktur verweist, ohne einen eigenen Beleg dafür zu geben. Die Kritik gibt einen weiteren Anhaltspunkt für die Ortung der Konstruktion mit erhalten: nach 1870 schon sicherlich, spätestens aber in den 1890-er Jahren muss diese Fügung sehr gewesen häufig sein mit geben- Verben i.w.S.

Die erhalten-Konstruktion nennt unter den Grammatikern einzig der in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur belesene Amerikaner Curme. Obwohl der Beleg sich nicht genau datieren lässt, kann man auf Curmes Behauptung, er habe seine Ergebnisse meistens mit einer repräsentativen Auswahl aus seinen Belegen illustriert (1905: VII), vertrauen und dementsprechend annehmen, die Konstruktion sei vor 1905 schon geläufig gewesen.

Wenn man die oben skizzierten Zeiträume aufeinanderblendet, ergibt sich folgendes Bild: ab 1850 scheint die erhalten-Fügung üblich zu sein und von den 70-er Jahren an häufig, ab den 90-er Jahren sogar “störend” häufig. Es bleibt zu fragen, ob die Verwendung mit erhalten tatsächlich auffällig häufig wurde, oder nur ihre Zugehörigkeit zu der produktiven Konstruktion erkannt und sie deshalb stets mit angeführt wurde. Auf jeden Fall liegt hier kein Beleg für die Verbindung von erhalten mit einem nehmen-Verb vor, damit ist es vergleichsweise weniger grammatikalisiert als bekommen und kriegen, auch wenn nicht nur typische geben-Verben mit ihm auftreten.

Von den Varietäten werden Umgangssprache/Volkssprache und Mundarten am häufigsten genannt. Daneben scheinen die von Bennewitz in der kaufmännischen – laut Titel:

mündlichen und schriftlichen – Kommunikation getadelten Beispiele auf häufigen (formelhaften?) Gebrauch zu deuten. Was Angaben über die dialektale Verbreitung angeht, beziehe ich mich nur auf explizite Aussagen der Autoren, ihre eigene Herkunft und die ihrer Belege werden hier nicht berücksichtigt.

1891 Kunze: rheinisch-schwäbisch

1892 Matthias: (mit Bezug auf Kunze: rheinisch-schwäbisch) und sächsisch 1897 Matthias: (mit Bezug auf Kunze: rheinisch-schwäbisch) und allgemein 1899 Schiepek: Egerländisch, Bayrisch-Österreichisch, Schlesisch, Obersächsisch 1900 Weise: Altenburger Mundart

1912 Wendt: Regierungsbezirk Düsseldorf und angrenzende rheinische und westfälische Gebiete 1924 Sütterlin: elsässisch, südrheinfränkisch, frf.

1924 Wunderlich: hochdeutsche Mundarten, Mainz, (mit Bezug auf Schiepek und Weise: Altenburger, Egerländer Mundart)

Aufgrund der hier aufgezählten Gebiete ist die Konstruktion um 1900 fast im gesamten hochdeutschen Raum verbreitet (s. Karte 3), wie auch Reis in Wunderlich/Reis “Satzbau”

bemerkt: im östlichen und mittleren Teil des Ostmitteldeutschen, im Bairisch-

Österreichischen, in großen Teilen des Westoberdeutschen, im Südrheinfränkischen, und zwei Gegende werden im Westmitteldeutschen genannt: Mainz und das weitere Umland von Düsseldorf, das auch auf niederdeutsches Gebiet übergreift.

Wenn die Fügung um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Belletristik so verbreitet war, dass sie zumindest in ein nicht konventionelles Wörterbuch Eingang gefunden hat und es um 1900 sogar in Verbindung mit nehmen-Verben bis in die sprachkritische Literatur schaffte, könnte man vermuten, dass die Expansion der Konstruktion im Laufe des Jahrhunderts in der gesprochenen Sprache ein sehr großes Ausmaß angenommen hat. Für die Lebendigkeit der Fügung sprechen auch die ungewöhnlichen Verben in der Konstruktion um die Jahrhundertwende: empfangen und erlangen.125

Karte 3: Das RP um 1900.126

125 Empfangen bei Matthias (Beleg aus 1892) und erlangen bei Sütterlin (vor 1924), s.o.

126 Grün markiert sind konkrete Nennungen, gelb steht für pauschale Erwähnungen.

4. Analysen digitaler Korpora 4.1. Allgemeines

Im Folgenden werden die aus den digitalen Datenbanken der „Digitalen Bibliothek”

gewonnenen Korpora vorgestellt und analysiert. Es handelt sich dabei um die Bände

„Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky” und „Philosophie von Platon bis Nietzsche”.

Die Datengewinnung erfolgt generell in den folgenden Schritten:

1. Die Datengrundlage wird in Bezug auf bestimmte Autoren bzw. Epochen eingeschränkt (es wird eine ’Auswahl’ der zu untersuchenden Texte erstellt).

2. Mithilfe der Option ’Volltextsuche’ werden anhand von Suchwörtern die in Frage kommenden Textstellen maschinell gelistet und anschließend die Kontexte aller relevanten Textwörter manuell geprüft, da das Korpus nicht annotiert ist und die relevanten Strukturen wegen der Vielfalt der partizipialen Formen nicht vollständig durch formalisierte Suchfragen erfasst werden können (s. Abb 18). Als Suchwörter werden die drei Konstruktionsverben des RP verwendet, wobei diese anhand von standardsprachlichen, dialektalen und historisch- dialektalen Wortformen erstellt werden. Letztere ergaben sich bei Durchsicht von historischen Wörterbüchern (vgl. Kapitel IV.1). Die Suchwörter bei den einzelnen Korpora weichen geringfügig voneinander ab, sie werden jeweils im günstigsten Abstraktionsgrad verwendet (bei kleineren Korpora können die umfassenderen, abstrakten Suchwörter mit den falschen Treffern in Kauf genommen werden).

Abb. 18. Die Suchoberfläche der digitalen Bibliothek

3. Herausgefiltert werden alle Konstruktionsverben in Verbindung mit einem Adjektiv oder einem Partizip Perfekt, deren Verhältnis als rezipientenpassivisches bzw. koprädikatives (depiktives oder resultatives – im Gegensatz zu adverbales) gedeutet werden kann. Aus arbeitsökonomischen Gründen können Präpositionalphrasen und Konjunktionalphrasen als Koprädikative nicht berücksichtigt werden:

(29) Ihr Beifall und Urteil erhält mich oft in meiner Ruhe, wenn der Verdruß sich bei mir einschleichen will.

(Hegel)127

– Präpositionalphrase als Koprädikativ

(30)… wodurch das Ding sich dem Prozesse widersetzt und sich in sich und als gleichgültig gegen ihn erhält.

(Hegel)128

– Konjunktionalphrase als Koprädikativ

127 Hegel: Rezensionen aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 43045 (vgl. Hegel-W Bd. 11, S. 225).

128 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 39093 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S.

218).

Dadurch wird das Gesamtbild in Bezug auf koprädikative Fügungen eingeengt auf die genannten Strukturtypen, die folgenden Aussagen bezüglich Koprädikativa müssen in diesem engeren Sinne verstanden werden. Die Einschränkung ist dennoch vertretbar, denn die Untersuchung konzentriert sich auf die Entstehungsbedingungen des RP, und als unmittelbare

„Vorgänger” werden in der Forschung partizipiale Adjektive angenommen.

4. Die Belege werden datiert und in Tabellen eingeordnet.