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6. D ARSTELLUNG DER F ORSCHUNGSERGEBNISSE

6.4. Bio-psycho-sozialer Zustand der Betroffenen nach längerer Betreuung

63 genannt werden. Wenn man einer neu angekommenen Betroffenen sagt: „Hey, du musst es allein machen!“, würde die Klientin sich im Stich gelassen fühlen. Denn schließlich kann sie noch nicht alles selbstständig erledigen. Aus diesem Grund wird alles Schritt für Schritt erarbeitet, bis eine Klientin ihre psychischen Kräfte ausbalancieren kann. Die Interviewpartnerinnen berichten weiters, dass es auch nicht selten ist, dass die Klientinnen eine vertrauensvolle Beziehung mit ihrer zuständigen Beraterin bzw. Koordinatorin aufbauen und fast ausschließlich mit diesen Personen über bestimmte bzw. mehr persönliche Themen sprechen wollen. Die Tatsache, dass sie mit ihnen regelmäßig private Gespräche führen können, fördert den Aufbau einer zuverlässigen Beziehung.

Schließlich geben viele Fachkräfte an, dass die produktive Kommunikation zwischen Betreuerinnen und Beraterinnen von großer Bedeutung ist. Sie funktioniert wie eine Kette.

Betreuerinnen erleben die Klientin in ihrem Alltag in der Wohnung und können ihre grundlegenden bzw. anfänglichen Bedürfnisse sowie die geeignetsten Zugangsmöglichkeiten zu der Klientin erfassen. Für eine Beraterin, die mit der Klientin in einem Einzelsetting arbeitet, sind Informationen sehr wichtig. Denn es ist ihr Ziel herauszufinden, was das Beste für ihre Klientin ist. Sobald die Bedürfnisse der Klientin im Beratungssetting spezifiziert werden, können sie wiederum den Betreuerinnen weitervermittelt werden. So kann gewährleistet werden, dass der Klientin bestmöglich geholfen wird.

6.4. Bio-psycho-sozialer Zustand der Betroffenen nach längerer Betreuung

64 dass der Eintritt der Verbesserung individuell unterschiedlich ist. Zudem ist es für die Fachkräfte von großer Bedeutung, dass die Klientinnen nach längerer Betreuung die Bereitschaft zeigen, gesundheitliche Beschwerden behandeln zu lassen. Zu Beginn verweigern sie dies sehr oft. Besonders für diejenigen, die bisher nie die Gelegenheit hatten, einen Arzt zu besuchen, ist die Möglichkeit einer medizinischen Untersuchung von großer Bedeutung – insbesondere um Krankheiten wie beispielsweise Hepatitis oder Rückenschmerzen zu behandeln. Trotz der erlebten Traumata wirkt sich das Sicherheitsgefühl allmählich positiv auf die Gesundheit der Klientinnen aus. Mit Hilfe der Betreuerinnen haben sie schrittweise gelernt, das Versorgungssystem in Wien zu verstehen und können in Folge ärztliche oder behördliche Termine selbstständig wahrnehmen.

6.4.2. Psychische Aspekte

Mit der Zeit ist auch eine positive Veränderung des psychischen Wohlbefindens der Klientinnen erkennbar. Das Wichtigste ist, dass sie schrittweise ihre psychischen Kräfte wiedererlangen. Diese Veränderung hängt eng mit dem Umzug von der ersten Schutzwohnung in die zweite bzw. von der zweiten Schutzwohnung in die Übergangswohnung zusammen. Zwischen diesen drei Arten von Wohnungen gibt es wesentliche Unterschiede:

„Also, […] gibt es riesige Unterschiede zwischen die Wohnungen selbst. Also, was Verantwortung bedeutet, ja, und wie sie.. wie die Frauen die Zeit benutzen. Also, sie würden auch durch Kenntnisse empowert. Ich denke, von den Betreuerinnen zum größten Teil auch, weil die Betreuerinnen versuchen die Frauen aktiv zu erzählen, was sie in der Stadt machen können, als Freizeitaktivitäten, als ahmm ich weiß nicht, die Stadt kennenzulernen und so. Damit sie sich zuhause fühlen, nicht fremd.“ (IP1 497-502)

Obwohl sich viele der Klientinnen häufig nicht bereit fühlen, ihre gewöhnliche Situation in der SW1 zu verlassen und umzuziehen, verstehen sie bald, dass sich ein Wechsel positiv auf ihr Wohlbefinden auswirkt. Manchmal bedarf es anfangs noch vermehrter Unterstützung, meist in Form von Motivation, damit sich die Klientinnen ein weitgehend selbstständiges Leben zutrauen. Dabei kann die Möglichkeit, in einer Wohnung mit wenigen Personen und ohne eine permanente Anwesenheit einer Betreuerin zu leben, ein wichtiges Motiv sowie einen positiven Anreiz darstellen.

Klientinnen, die über einen gewissen Zeitrahmen betreut wurden oder diejenigen, die in der SW2 oder in der ÜW leben, sind in der Regel selbstständiger, aktiver, verantwortungsvoller und weniger reizbar. Sie strukturieren nicht nur ihren Alltag

65 eigenständig, sondern organisieren auch selbständig ihre Termine, Beschäftigungen und Aktivitäten. Zudem haben sie gelernt, eigene Fortschritte zu reflektieren und Konflikte ohne verbale Angriffe zu lösen. In Hinblick auf psychische Beschwerden erhöht sich die Bereitschaft, diese therapeutisch zu bearbeiten. Aufgrund der zunehmenden Selbstständigkeit kann der Kontakt zu den zuständigen Beraterinnen allmählich reduziert werden. Darüber hinaus sind sie entspannter, offener und kommunikativer, wodurch im Vergleich zu der Zeit in der SW1, andere Themen diskutiert und bearbeitet werden können.

Viele von ihnen, besonders jene, die in der ÜW leben, sind auf Arbeitssuche oder haben bereits eine Stelle gefunden. Die ÜW kann als eine typische Wohngemeinschaft charakterisiert werden, zumal die Adresse nicht mehr geheim ist und die Klientinnen einen entsprechenden Betrag dafür zahlen. Dennoch fehlen der Mehrheit der Betroffenen finanzielle Mittel, um in eine andere Wohnung außerhalb LEFÖ umziehen zu können.

Wenn sie in die zweite SW oder in die ÜW kommen, unterschreiben sie eine Inventarliste.

Damit geht eine Art Verantwortungsübernahme einher, da sie für die Gegenstände in ihrem Zimmer zuständig sind. Weiters ist ihr rechtlicher Status klarer, weil die meisten schon über die benötigten Aufenthaltsdokumente verfügen. Dieser Schritt gibt ihnen Kraft und motiviert sie, weiter zu lernen sowie sich Ziele zu setzen und im Allgemeinen ihr Leben zu planen.

Ebenso positiv wirken sich Anerkennung und Lob aus. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn sie ein Sprachdiplom erwerben oder einen Job finden. Besonders bei Transgenderpersonen, die eine erhöhte Diskriminierung erlebt haben, ist diese Anerkennung sehr wichtig, weil sie dadurch die Erfahrung machen, wieder jemandem vertrauen zu können.

„In der SW2 sind die Frauen mehr selbstständig, so sie gehen alleine zu ihren Terminen, machen... manche machen schon ihre Termine aus, sie suchen bei sich selbe Beschäftigung, Hobbys, ahh sie sind von ihrem Lebensstruktur verantwortlich. In der ÜW sie haben alle diese Dinge geschafft und sie arbeiten schon in ihre Zukunft. So sie überlegen einen Job und sie suchen einen Job, sie sind für die Wohnung so... physisch verantwortlich, ahmm sie haben da schon eine soziales Leben, so die Kirche, die Freunde“ (IP6 456-462)

Die selbstständige Gestaltung des Alltags und die damit einhergehende Übernahme von Verantwortung werden für die Stabilisierungsphase der Betroffenen von Frauenhandel als sehr relevant angesehen. Bisher erlebten sie diesbezüglich eine Abhängigkeit von anderen, zumeist Täter*innen, die dieses als Druckmittel verwendeten.

„Und das ist sehr wichtig, besonders wenn wir in dem Bereich Menschenhandel sind, weil oft Opfer sind auch abhängig von Tätern. Das ist auch ein Druckmittel

66 von den Tätern, dass die Opfer nichts machen, nichts wissen und wenn eine Person sehr lang in so einer Situation ist, kann nicht allein was machen. Sie wissen nicht, wie das gehört. Und oft die sind gewohnt, dass jemand andere für deine Sachen macht. Und dann irgendwann musst du aber lernen selber, das sind deine Sachen, was nicht so angenehm ist. Und das bedeutet Verantwortung für dich selbst zu übernehmen und solche Sachen. Sie ist schon ein langer Prozess. Und das bedeutet, in die zweite Wohnung kommen Frauen, die eher schon bisschen soweit sind.“ (IP3 417-425)

Empowerment stellt einen zentralen Fokus während der Betreuung dar. Durch das Wissen um die Versorgungslandschaft in Wien sowie die eigene Gestaltung des Alltags erleben Betroffene eine Unabhängigkeit, die sich wiederum positiv auf ihre Stabilisierung auswirkt.

Einige Expertinnen betonten nachdrücklich, dass es für den weiteren Lebenslauf der Betroffenen wesentlich zu beachten ist, dass sie nicht von einer Abhängigkeit in die nächste rutschen.

6.4.3. Soziale Aspekte

In weiterer Folge erklären die Fachkräfte, dass die Betroffenen durch das Empowerment generell selbstbewusster und sicherer wirken. Außerdem beginnen sie, sich mit den österreichischen kulturellen Aspekten auseinanderzusetzen bzw. sich diesen zu öffnen. So wurde vom Betreuungspersonal der SW1 bemerkt, dass manche Klientinnen, wie z. B. im Fall von vielen Nigerianerinnen, diese während der Betreuungszeit in der ersten SW sehr laut waren. Viele der Betreuerinnen verbanden diese „auffällige Lautstärke“ mit Aggression oder Gewalt. Im Laufe der Zeit wurde festgestellt, dass es sich hierbei um einen kulturrelevanten Aspekt handelt. Trotz der Bemühungen der Betreuerinnen, den Klientinnen zu vermitteln, wie ihr Verhalten in Österreich wahrgenommen wird, stießen diese häufig auf Widerstand. Auffallend war, dass die Klientinnen, sobald sie in der SW2 waren und ihre amtlichen Dokumente hatten, ruhiger wurden und die Kulturaspekte des Aufnahmelandes vermutlich vermehrt respektierten. Ein Verhalten wie dieses wurde natürlich nicht nur bei Nigerianerinnen, sondern auch bei Frauen anderer ethnischer Herkunft beobachtet. Die Gründe hierfür können sehr unterschiedlich sein (z. B. Ausbruch wegen wiederholten Druckes bzw. Diskriminierung).

Ein häufig beobachtbares Phänomen ist, dass sich Klientinnen nach langer Betreuungszeit in der SW1 so an die Wohnsituation angepasst haben, dass sie im Rahmen ihrer Komfortzone leben und diese nicht verlassen möchten. Wenn ihnen gesagt wird, dass es an der Zeit wäre, in die SW2 umzuziehen, fällt ihnen dieser Wechsel häufig schwer. Meist fühlen sie sich hilflos und verlassen, nur selten gibt es Klientinnen, die sich auf diese

67 Veränderung freuen. Meist wird versucht ihre zuständige Beraterin zu überreden, um in der ersten SW bleiben zu können. Nach dem Umzug wird von vielen beobachtet, dass sie sich besser fühlen und finden es grundsätzlich gut, dass sie nicht mehr in dieser engmaschigen Betreuung sind. Sie sind zwar mehr mit der Realität konfrontiert, aber das hilft ihnen, sich allmählich auch in der Welt außerhalb der SW1 zurechtzufinden. Dies mobilisiert sie, selbst Streitigkeiten bzw. Missverständnisse zu lösen oder generell Alltagstätigkeiten zu erledigen. In diesem Sinne lernen sie in der SW2 oder auch in der ÜW beispielsweise allein zu handeln, einen Job zu suchen, Briefe abzuholen, Geld zu sparen, um eine Wohnung mieten zu können oder noch selbstbewusster mit möglichen Polizeibesuchen umzugehen. Diese Punkte führen zu einer Art Volljährigkeit und stellen eine Vorphase der Selbstständigkeit dar. Eine Interviewpartnerin macht klar, dass so ein Umzug sowohl positive als auch negative Aspekte beinhaltet:

„Natürlich gibt’s eine erste Phase Stabilisierung […] wenn du z.B. eine Klientin sagst, „ja ok in zwei Wochen ziehst du um, weil du super bist, das ist meine Meinung“ - „na na na na please no, i need always a Betreuerin“. Nein. Und das ist immer, ja, es ist also diese Veränderung, dieses Wechseln, das sie machen sollen, das ist ihnen manchmal sehr schwierig, weil sie... dann ist sie super, weil dann checken sie „Wow super, ich habe nicht jeden Tag jemand da, die für mich zur Verfügung steht“, ja. Das ist auch ein bisschen übertrieben. Ähmm aber auch Negatives würde ich sagen, dass sie ab SWII mehr mit Realität konfrontiert sind.“

(IP7 821-832)

Nach längerer Betreuung lernen sie auch, generell unabhängig zu werden und gesunde Beziehungen aufzubauen. Das ist besonders wichtig, da Betroffene des Frauenhandels bis jetzt in Abhängigkeitsverhältnissen mit den Täter*innen standen und ihnen suggeriert wurde, zu nichts fähig zu sein.

Auch wenn sich die Klientinnen unterschiedlich schnell einleben, ist sichtbar, dass sie offener und partizipativer werden. Sie suchen das Gespräch und interessieren sich für politische, soziale und kulturelle Themen. Generell rücken jene Interessensbereiche in den Vordergrund, die ihr Leben in Österreich beeinflussen können. Parallel versuchen sie eine externe Anerkennung zu erhalten, wenn sie z. B. eine Prüfung bestanden oder einen Job gefunden haben. Wird ihr Erfolg von anderen nicht erkannt, fühlen sie sich schnell verletzt.

Ein Selbstwertgefühl ist aber auch für jene Klientinnen wie beispielsweise Transgenderpersonen wichtig, da sie auf der Straße oftmals in hohem Maße diskriminiert wurden und daher oftmals nicht sichtbar sein wollen. Durch die Anerkennung erleben sie positive Wertschätzung, welche das Vertrauensgefühl fördert.

68 Dass die meisten Klientinnen selbstbewusster und sicherer wirken, bedeutet nicht, dass sie nicht mehr traumatisiert sind. Viele verfügen über ein Sicherheitsgefühl, aber es gibt natürlich Phasen, wo sie sich in einer Konfliktsituation einmischen oder aus verschiedenen Gründen die Wohnung verlassen wollen. Das stellt aber gleichzeitig ein positives Zeichen dar, nämlich das sie bereit sind, sich zu verteidigen. Dies kann als Gegenstück zu ihren früheren Verhaltensweisen mit den Täter*innen angesehen werden, wo sie zum größten Teil unterdrückt wurden.

Eine vollständige Stabilisierung sowie eine Vorphase der Integration erfolgt tatsächlich in der Übergangswohnung. Die Klientinnen der ÜW haben alle Dinge geschafft und planen häufig schon ihre Zukunft. Sie sind für die Wohnung verantwortlich und manche haben schon eine Arbeit gefunden oder sind intensiv auf der Suche danach. Das Wichtigste ist jedoch, dass sie soziale Netzwerke haben, wie Freund*innen, Kirche u. ä. Diese wirken sich positiv auf den psychischen Zustand sowie die weitere Integration aus. Wie schnell sich Betroffene stabilisieren und integrieren können, kann nicht genau bestimmt werden und hängt unter anderem auch von der jeweiligen Widerstandskraft ab. Manche Klientinnen brauchen Monate oder Jahre, während andere sich sehr schnell anpassen.