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6. D ARSTELLUNG DER F ORSCHUNGSERGEBNISSE

6.3. Bio-psycho-sozialer Zustand der Betroffenen zu Beginn der Betreuung

6.3.3. Soziale Aspekte

55 begleiten. Sie bieten den Betroffenen psychosoziale Unterstützung an, sind da, um die kleineren sowie größeren Sorgen der Klientinnen anzuhören und begleiten sie zu ärztlichen bzw. anderen Terminen. Parallel dazu sind sie immer bereit zu intervenieren, wenn Konflikte zwischen den Klientinnen entstehen oder wenn die Wohnungsregeln nicht eingehalten werden. Sie versuchen die Klientinnen immer zu motivieren, damit diese an verschiedenen Aktivitäten teilnehmen und aus einer eventuellen Depressionsstimmung herauskommen können.

Sowohl Expertinnen mit Beratungs- als auch jene mit Koordinationsaufgaben sind der Meinung, dass die Betreuerinnen nicht nur für die Betroffenen selbst wichtig sind, sondern auch für die Beraterinnen, mit denen sie sich regelmäßig in Verbindung setzen. Da die Betreuerinnen die Klientinnen bei ihrem Alltag begleiten, sind sie auch in der Lage wichtige Informationen an die Beraterinnen zu übermitteln. Das können etwa ungewöhnliche Verhaltensweisen, eine falsche Dosierung von Medikamenten oder Medikamentenverweigerung sein. Es kann aber auch vorkommen, dass sie auf suizidale oder depressive Anzeichen, extreme Gewichts- und Stimmungsschwankungen oder generell Haltungen, die signalisieren, dass es der Klientin nicht so gut geht, aufmerksam machen. Durch die Kommunikation und den Informationsaustausch zwischen den Beraterinnen und Betreuerinnen gelingt ein besseres Gesamtverständnis über die psycho- soziale Situation der Betroffenen und die zukünftige Weiterarbeit. Weiters wird abgeklärt, ob es je nach Umständen als sinnvoll erachtet wird, ob die Betroffene an andere Einrichtungen überwiesen werden sollte.

56 spürbar, die das kultur- und religionsrelevante ´Ju Ju´ (vgl. 6.3.1.) durchlebt haben. Eine Aussage bei der Polizei oder eine Betreuung bei einer Organisation heißt für sie, dass sie den Schwur verletzt haben und dann die Konsequenzen dieses Eidbruchs zu tragen haben. Konsequenzen für einen Eidbruch können ihrer Meinung nach beispielsweise Kopf- , Bauch- bzw. Rückenschmerzen oder auch psychisches Leid sein. Sie brauchen in der Regel viel Zeit bis sie Vertrauen erlangen und begreifen, dass man sie als Persönlichkeit und die damit verbundenen sozialkulturellen Aspekte wirklich versteht und akzeptiert. Die LEFÖ zielt darauf ab, eine empathische und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Die Betroffenen werden von einer Frauenorganisation unterstützt, die zum größten Teil aus Migrantinnen besteht, die bereit sind, ihnen zur Seite zu stehen. Wenn Klientinnen merken, dass man versteht, was sie meinen, gibt es häufig einen anderen Zugang.

Aus den Expertinneninterviews ging deutlich hervor, dass es von großer Bedeutung ist, wenn Betroffene, die zum ersten Mal in die SW1 ankommen, von den Mitbewohnerinnen sowie dem Betreuungspersonal willkommen geheißen werden. Die ersten Tage sind für neu ankommende Klientinnen oftmals schwierig und sie sind von dem Konzept noch nicht überzeugt. Die SW1 ist ein Sicherheitsort für Notsituationen, wo sich die Klientinnen nicht mehr bedroht fühlen sollen. Es ist außerdem ein Ort, wo sie sich auf sich selbst konzentrieren können. Obwohl dieser Ort von vielen als das erkannt wird, verändert sich immer dann die Gruppendynamik, wenn eine neue Klientin erscheint. In Hinblick darauf kann das Konfliktpotenzial bergen und sowohl für das Personal als auch für die Klientinnen belastend sein. Konfliktpotenzial kann auch bestehen, wenn eine Klientin allmählich ihre Kräfte wiedererlangt. Das ist häufig bei Klientinnen zu sehen, welche die Situationen in der Wohnung anfangs ruhig beobachten und sobald sie sich entspannter fühlen, beginnen sie die Wohnungsregeln nicht einzuhalten. Mitunter kann dies aber auch bei jenen Klientinnen der Fall sein, die stabil wirken und sich relativ schnell einleben.

In einem Bereich waren sich alle befragten Expertinnen einig. Konflikte zwischen den Klientinnen entstehen fast täglich aus diversen Gründen. Manchmal streiten sie sich über Kleinigkeiten, welche sie jedoch sehr ernst nehmen, zumal sie bisher im Ausbeutungsrahmen nichts bestimmen und keine Entscheidung treffen durften. Wie bei allen Menschen sind einige Klientinnen kompromissbereiter und flexibler, während andere egoistischer handeln. Konflikte entstehen auch wegen der Sprachbarriere, der verschiedenen kulturellen Hintergründe, der engen Räumlichkeiten oder der täglichen Routine. Die Tatsache, dass sie das Zimmer mit ein oder zwei Personen teilen müssen, wirkt sich manchmal negativ aus. Es kann vorkommen, dass sie sich rassistisch äußern.

Häufig tritt das dann auf, wenn sie selbst in der Gesellschaft Diskriminierung erlebt haben und wenn die andere Person unterschiedlicher Herkunft ist. Beispiele hierfür sind etwa eine

57 andere Sprache, Hautfarbe, Herkunft, Alter, Religion, Gewohnheiten, Bedürfnisse, Sozialisation, differentes Verständnis von Ordnung, Höflichkeit oder Respekt. Im Zuge eines Interviews wurde deutlich gemacht:

„Also Rassismus sehe ich viel. […] oder einfach differenzieren von anderen, die nicht wie ich ist. Und das ist schwierig, wenn wir ein paar Frauen von selbem Herkunftsland haben und z.B. es gibt diese Gruppe aus Nigeria, die Gruppe, die Französisch spricht, die Gruppe, die Spanisch spricht und sie... es gibt auch Differenzen von, also, von Klasse. Es gibt Frauen, die die Schule nicht besuchen konnten, es gibt Frauen, die die Uni abgeschlossen haben. […] gibt’s auch Homophobie in der Wohnung, gibt’s solchen Sachen oder gibt’s auch Diskriminierung in der Wohnung, wo wir sagen ja, die anderen nicht normal ist, ja.

Also solchen Wörter, die ich überhaupt nicht verstehen kann oder ganz stark ist, weil... aber gleichzeitig selbstverständlich sind, wenn die Frauen unter Stress sind, weil die Frauen kommen von Situationen von gewaltigen Situationen, es ist halt schwierig, also diesen Click zu machen, ja.“ (IP7 552-565)

Eine weitere Expertin hat die Situation wie folgt beschrieben:

„Natürlich es gibt sehr viele verschiedene Herkunftsländer der Klientinnen, d.h.

auch unterschiedlichste Arten der Sozialisation der jeweiligen Frauen, aufwachsen in unterschiedlichen Gesellschaften […] individuelle Bedürfnisse haben und das führt meiner Meinung dann dazu auch, dass die Frauen teilweise unterschiedliche Umgangsformen haben oder auch eine unterschiedliche Lautstärke als angenehm oder respektvoll, höflicher geachtet wird. Oder einfach verschiedene Arten der Kommunikation und vielleicht oft auch ein unterschiedliches Verständnis von Ordnung, Höflichkeit etc. Und wenn dann da eben so unterschiedliche Weltvorstellungen aufeinanderprallen, birgt das natürlich auch immer Konfliktpotenzial und davor sehr hohe Rücksichtnahme, Toleranz untereinander, was natürlich auch immer ein Lernpotenzial mit sich bringt.“ (IP2 310-320)

Das Getrenntsein von ihren Angehörigen hat ebenfalls eine negative Auswirkung auf den psychosozialen Zustand der Betroffenen, insbesondere, wenn sie wissen, dass ihre Familien von Täter*innen bedroht werden können. Aber auch der Gelddruck seitens ihrer Familie im Herkunftsland kann Betroffene, die noch nicht arbeiten dürfen, sehr belasten.

Hier spielt die Community eine große Rolle, da sich Klientinnen untereinander unterstützen, wie im Fall der Nigerianerinnen oder der Philippininnen. Wie in jeder Wohngemeinschaft treten noch weitere tägliche Probleme auf, wie etwa das Nichteinhalten des Putzplans, das Einkaufen, die Ruhe- und Kochzeiten u. ä. Dennoch gibt es einen

58 wesentlichen Unterschied zwischen einer typischen WG und der SW1. Die Klientinnen können nicht auswählen, welche Mitbewohnerinnen sie haben möchten. In der SW1 landen Klientinnen, die alle möglichen Unterstützungsformen benötigen. Für manche von ihnen kann es sein, dass eine baldige Abschiebung droht. Die Unsicherheit des Aufenthalts und der inexistenten zukünftigen Lebensperspektive belastet die Klientinnen enorm und das hat in den meisten Fällen zur Folge, dass sie sehr reizbar sind und leicht aufbrausend werden sowie dysfunktionale Verhaltensweisen entwickeln.

Wenn man sich mit einer multikulturell betreuten Wohngemeinschaft für Betroffene des Frauenhandels auseinandersetzt, sind psychische Störungen zu erwarten. Diese können die Balance und die Kommunikation in der Wohnung verändern. In der SW1 werden sowohl Klientinnen mit Schizophrenie, posttraumatischen Belastungsstörungen, Depression, Borderline, als auch Klientinnen mit Intelligenzminderung bzw. Sozialkompetenzdefiziten aufgenommen. Menschen mit Sozialkompetenzdefiziten wurden in ihrem bisherigen Leben häufig ausgenutzt und verletzt, sodass sie nun mehr Angst haben, einen engeren Kontakt mit jemandem zu knüpfen. Folglich wählen sie einen Abstand, damit sie sich selbst schützen können. Die kulturelle Mediation übernimmt auch hier eine wichtige Rolle. Sie soll den Menschen im Alltag aufzeigen, dass sie jemandem trauen können.

Beziehungsprobleme wie das Thema „Nähe-Distanz“ finden auch ihren Platz in der Wohnung, besonders in Bezug auf das Betreuungspersonal. Viele der Klientinnen hatten bisher kein Netzwerk und können somit weder persönliche noch gemeinsame Grenzen setzen. Manche Personen haben auch noch keine Erfahrung mit Freundschaft gemacht oder haben womöglich Angst vor Einsamkeit. Daher versuchen einige Klientinnen, sich den Betreuerinnen so zu nähern, als ob sie ihre Freundinnen oder nahe Bezugspersonen wären. Aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen geht hervor, dass die meisten Fachkräfte unterschiedlich handeln. Manche von ihnen behaupten, dass ihnen eine distanzierte Haltung relativ leicht fällt, da sie so als Menschen sind:

„Ich persönlich denk, tue mich nicht wirklich schwer damit, weil ich eben die Wichtigkeit davon verstehe […] vielleicht auch, weil ich generell ein eher distanzierter Mensch bin, ist das vielleicht, kann nicht so eine große Herausforderung für mich, aber es ist einfach wichtig, dass man so eine Arbeit überhaupt machen kann, wenn man mit solchen extremen Schickschalen konfrontiert ist, eben, dass man da selbst noch handlungsfähig bleibt, muss man eine gewisse Distanz bewahren, […] auch für die eigene psychische Gesundheit oder überhaupt nach der..“ (IP2 675-682)

59 Ein Teil der Interviewpartnerinnen gab an, dass sie angemessen intervenieren und die Grenzen dieser Beziehung aufzeigen, welche nichts anderes als eine professionelle Verbindung zwischen Klientin und Betreuerin sein kann, sodass eine weitere objektive Behandlung möglich ist.

„Es ist sehr unterschiedlich von Person zu Person, von Moment zu Moment. Es gab eine Klientin, die mich Mama nennen wollte.. […] man sieht das nicht, aber ich bin relativ jung, also ich kann physisch ihre Mutter nicht sein, ja? Aber zu sie es war für sie wichtig und habe dann ihr erklärt, dass obwohl ich nicht ihre Mutter bin i care for them. Und das ist nicht nur diese Beziehungen, es gibt andere Art von Beziehungen auch. […] Auch für die Frauen ist das so wichtig, weil sonst werden sie auch dependent und das ist nicht, was wir von ihnen auch uns wünschen und...“ (IP5 312-327)

Andererseits stellt das für andere Expertinnen doch einen Umstand dar, der in weiterer Folge innerliche kontroverse Gedanken weckt:

„Ja, das ist… das ist schwierig. Das ist schwierig, weil, also natürlich es ist super klar, dass wir keine Freunde sind, natürlich ja? […] z.B. oder eine andere Klientin von mir hat getanzt in einem Performance am Sonntag, ich wollte hingehen, aber gleichzeitig… Also, es ist auch schwierig nicht zu denken, das ist Arbeit, ja? Also ich gehe nicht hin als... Also ich gehe hin schon als [Anm. d. Verf.: Name der Interviewpartnerin genannt], aber am Ende des Tages es ist für sie eine Anerkennung von ihrer Beraterin und dann es ist ein bisschen schwierig oder solche Sachen.“ (IP7 1362-1372)

Ausgehend von den Interviews kann festgehalten werden, dass die meisten Klientinnen erst in der SW1 zu lernen beginnen, was gemeinschaftliches Leben bedeuten kann und wie man toleranter sowie geduldiger wird. Sie erfahren auch, dass sie sowohl Rechte als auch Pflichten haben. Das ist ein langer Prozess, indem sie sich aneignen, Verantwortung zu übernehmen, Alltagsstrukturen einzuhalten und gesellschaftlichen Regeln zu folgen, ohne dazu gezwungen oder von jemandem anderen ausgenutzt zu werden. Das Erlernen des respektvollen Umgangs mit anderen Menschen ist bedeutend für ihre spätere Integration.

Viele der Klientinnen zeigen auch Interesse an sozialpolitischen Themen, die ihr Leben und ihre Rechte beeinflussen. Deswegen besitzen die wöchentlichen WG-Besprechungen einen hohen Stellenwert. Es werden u. a. relevante Themen wie beispielsweise Politik, Rassismus, Diskriminierung, Integration, Sozial- und Bildungssystem in Österreich, Hygiene, Gesundheit, Sicherheit, gemeinsames Leben, Respekt, Höflichkeit und tägliche

60 Anliegen eingebracht. Die Rolle der kulturellen Mediatorin ist für einen reibungslosen Ablauf bei den WG-Besprechungen besonders wichtig. Denn die meisten Klientinnen haben bisher kaum bis gar keine Erfahrung darin, wie man an einer Diskussion aktiv teilnimmt und Themen anspricht bzw. wie ein respektvoller Umgang mit den Meinungen anderer aussehen kann.

„Weil die Frauen, die bei uns wohnen, sind schon mit politischen Themen beschäftigt. Was bedeutet die Integration, was bedeutet ahmm eine Stadt... wie funktioniert eine Stadt und wie können sie, wie sind davon betroffen. […] Das ist ein Lernen von den soft skills, was ist Kommunikation, wie wohne ich mit anderen, aber wie äußere ich auch meine Gedanke, so das ist, die anderen nicht schädet und genau.“ (IP5 420-447)

Aus dem Interview geht klar hervor, dass „Respekt“ und „Höflichkeit“ die meist angesprochenen Themen darstellen. Klientinnen kommen aus unterschiedlichen Ländern, was auch verschiedene Sprachen, Kulturaspekte und Gewohnheiten bedeutet. In Zusammenhang mit den traumatischen Erfahrungen und möglichen psychischen Störungen kann dies zu vielen Missverständnissen und Reibungspunkten führen, welche durch entsprechende Gruppen- aber auch Einzelinterventionen gelöst werden können.

Diese Settings können sich als sehr hilfreich erweisen, da Betreuerinnen oft die Gelegenheit ergreifen, um den Klientinnen zu erklären, wie kulturspezifische Umgangsformen wie beispielsweise Lautstärke und Respekt in Österreich wahrgenommen werden. Was als „respektvoll“ oder „nett und höflich“ in einer Kultur betrachtet wird, kann in einer anderen Kultur etwas anderes bedeuten. Die Missdeutung dieser Umgangsformen kann folglich das kollektive Leben der Klientinnen in der Wohnung negativ beeinflussen und auch zu direkten oder indirekten Auseinandersetzungen über verschiedene Themen führen. Daher sollen Betreuerinnen bei indirekten Konflikten sehr vorsichtig handeln und – wenn möglich – warten, ob es sich um eine Provokation oder ein wirkliches Problem handelt. Alles, was grenzenlos ist, kann Streitigkeiten und Konflikte auslösen. Das kann einerseits eine Kleinigkeit sein, wie das Tragen von Tüten im Supermarkt oder welcher Anteil an Lebensmitteln wem gehört bis hin zu wichtigen Themenkomplexen, wie Vorwürfe von Klientinnen an Betreuerinnen gegen ungleiches bzw. ungerechtes Behandeln in Bezug auf die verbringende Zeit mit einer Klientin. Laut einer Expertin wird es manchmal als sinnvoll erachtet, dass heftige Ereignisse, wie z. B. ein Suizidversuch und seine Konsequenzen nicht mehr im Wohnungsrahmen gelöst werden. Daher werden auch Gruppeninterventionen in der Beratungsstelle durchgeführt, damit die Wohnung wieder als ein sicherer Ort angesehen wird.

61 Im Zuge der Interviews wurde von vielen Expertinnen erläutert, dass die 24stündige Betreuung von den meisten Klientinnen falsch interpretiert wird. Von einem Teil der Klientinnen wird diese intensive Betreuung als eine Rettungsmaßnahme gesehen, da sie sich noch verängstigt und unsicher fühlen. Andere vergleichen sie mit einer Haft, denn sie empfinden, dass ihre Freiheit wegen der strikten Sicherheitsregeln eingeschränkt wird. Der Großteil versteht jedoch im Laufe der Zeit, warum sie am Anfang so intensiv betreut werden. Das kann etwa notwendig sein, wenn sie eine mehrstündige Polizeieinvernahme vor sich haben oder wenn sie in der Stadt gefährdet sind bzw. von den Täter*innen gesucht werden. Auf der anderen Seite betonten viele Fachkräfte, dass diese Wohnverhältnisse nicht für alle passend sind. So etwa bei einer Gruppe Betroffener aus Venezuela, die sich im Rahmen dieser intensiven Betreuung unwohl fühlte und in weiter Folge die Entscheidung getroffen hat, in ihre Heimat zurückzukehren. In so einem Fall übernimmt LEFÖ – IBF in Zusammenarbeit mit entsprechenden Institutionen im Herkunftsland auch die Organisation der Rückreise.

Die intensive Betreuung wurde auch für den Schutz der Klientinnen gedacht, die unter Panikattacken leiden oder suizidale bzw. selbstverletzende Verhaltensweisen aufzeigen.

Suizidale Tendenzen bzw. Gedanken sowie Panikattacken sind ein häufiges Phänomen in der SW1, wobei die Mitbewohnerinnen auch betroffen sind. Die anwesenden Klientinnen kennen sich mit solchen Krisenereignissen nicht aus und werden daher mit unzähligen chaotischen und negativen Gedanken konfrontiert.

Weiterhin ist eine enge Betreuung für eine neu ankommende Klientin sowie für ihre zuständige Beraterin bedeutungsvoll. In den ersten Beratungen werden die Bedürfnisse der Klientin auf einer individuellen sowie kollektiven Ebene thematisiert. Es wird besprochen, wenn die Anpassung in der Wohnung funktioniert, ob sie ihre Rolle zwischen den anderen Klientinnen gefunden hat, wie sie mit der Alltagsstruktur umgeht und ob sie andere Schwierigkeiten in der Wohnung oder in Interaktion mit den anderen Klientinnen hat. Diese Faktoren scheinen entscheidend für die psychosoziale Stabilisierung der Klientin zu sein, da dieser Ort dafür gedacht ist, zur Ruhe zu kommen und Zeit für sich selbst zu haben. Sofern sich eine Klientin in einer besseren psychosozialen Lage befindet und die wichtigsten rechtlichen Schritte (z. B. Beantragung eines Aufenthaltstitels, Anmeldung des Wohnsitzes, Anzeigeerstattung u. ä.) unternommen worden sind, werden noch andere Themen sowie Wünsche der Klientin angesprochen, die auf ihre physische und psychosoziale Gesundung gerichtet sind. Die Klientin arbeitet somit mit ihrer Beraterin zusammen, damit sie gemeinsam herausfinden können, welche Bedürfnisse sie hat. Das kann etwa eine Therapie, ein Alphabetisierungs- oder Integrationskurs, eine Arbeitssuchberatung sowie eine bestimmte medizinische Untersuchung sein.

62 Eine der Expertinnen unterstrich, dass Kommunikation und Zuhören für eine konstruktive Beziehungsarbeit mit den Klientinnen in allen Fällen sehr wichtig sind. Es gibt Klientinnen, die kein Netzwerk haben und sich einsam fühlen, obwohl sie seit Jahren in Wien leben.

„Ich finde die Kommunikation sehr wichtig. Ahmmm, also, die Frauen, meiner Erfahrung nach, fühlen sich sehr einsam, auch wenn sie länger in Wien waren“ (IP1 271-273)

Eine andere Expertin gab eine ähnliche Antwort und erklärte weiter, dass manche Betroffene im Gesicht der Betreuerinnen eine zuverlässige Person sehen, mit welcher sie das Gespräch suchen. Andere wiederum haben kein Verlangen danach über ihre Vergangenheit zu sprechen oder neue Auskünfte einzuholen.

„Es gibt auch viele Frauen, die das ihnen wirklich sehr hilft, darüber zu sprechen, die dann auch mit uns Betreuerinnen immer wieder das Gespräch suchen, auf uns aktiv zu gehen oder auch wenn wir nachfragen, dann sehr auskunftsbereit sind und das ihnen scheinbar gut tut darüber zu sprechen. Ist aber bei anderen gar nicht der Fall, die wollen überhaupt nicht darüber reden, also ich habe auch einmal über dieses „nicht reden“ mit einer Klientin gesprochen und sie hat mir gesagt nein, sie will nicht mehr daran denken und das einfach vergessen und hinter sich lassen“

(IP2 410-416)

Aus diesem Grund fördern die Betreuerinnen das Solidaritätsprinzip sowie Prinzipien für ein gutes kollektives Miteinander. Dann unterstützen sich die Betroffenen intensiv untereinander, da sie viele ähnliche traumatische Erfahrungen haben und sich gegenseitig verstehen können. Außerdem arbeiten die Fachkräfte vernetzungsmäßig, damit sie den Klientinnen diverse kostenlose Sport-, Sprach- oder Gruppenaktivitäten anbieten können.

Dadurch können Klientinnen ein soziales Netzwerk aufbauen, was sich tatsächlich positiv auf ihr Wohlbefinden auswirkt. Daneben betrachten die Fachkräfte die Spracherlernung sowie die Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten für die Stabilisierung und die erste Phase der Integration der Klientinnen als sehr wichtig. Sie bemühen sich, die Klientinnen zu motivieren, sich zu partizipieren bzw. Deutsch- sowie Lerngelegenheiten zu ergreifen, weil sie bereits wissen, dass das antidepressiv wirkt und die Sozialisation der Klientinnen fördert. Zudem ist es wichtig, die Sprache in einem täglichen Interaktionssetting zu verwenden. Diese Motivation seitens der Klientinnen in der SW1 besteht jedoch nicht immer, weil für viele der Klientinnen nicht sicher ist, ob sie sich auch in Zukunft in Österreich aufhalten dürfen. Dies stellt häufig einen Hemmfaktor dar.

Eine Expertin berichtet erfahrungsgemäß, dass in der Anfangsphase nicht alles möglich ist. Als Beispiel kann hier etwa die übertriebene Förderung des Selbstbewusstseins

63 genannt werden. Wenn man einer neu angekommenen Betroffenen sagt: „Hey, du musst es allein machen!“, würde die Klientin sich im Stich gelassen fühlen. Denn schließlich kann sie noch nicht alles selbstständig erledigen. Aus diesem Grund wird alles Schritt für Schritt erarbeitet, bis eine Klientin ihre psychischen Kräfte ausbalancieren kann. Die Interviewpartnerinnen berichten weiters, dass es auch nicht selten ist, dass die Klientinnen eine vertrauensvolle Beziehung mit ihrer zuständigen Beraterin bzw. Koordinatorin aufbauen und fast ausschließlich mit diesen Personen über bestimmte bzw. mehr persönliche Themen sprechen wollen. Die Tatsache, dass sie mit ihnen regelmäßig private Gespräche führen können, fördert den Aufbau einer zuverlässigen Beziehung.

Schließlich geben viele Fachkräfte an, dass die produktive Kommunikation zwischen Betreuerinnen und Beraterinnen von großer Bedeutung ist. Sie funktioniert wie eine Kette.

Betreuerinnen erleben die Klientin in ihrem Alltag in der Wohnung und können ihre grundlegenden bzw. anfänglichen Bedürfnisse sowie die geeignetsten Zugangsmöglichkeiten zu der Klientin erfassen. Für eine Beraterin, die mit der Klientin in einem Einzelsetting arbeitet, sind Informationen sehr wichtig. Denn es ist ihr Ziel herauszufinden, was das Beste für ihre Klientin ist. Sobald die Bedürfnisse der Klientin im Beratungssetting spezifiziert werden, können sie wiederum den Betreuerinnen weitervermittelt werden. So kann gewährleistet werden, dass der Klientin bestmöglich geholfen wird.

6.4. Bio-psycho-sozialer Zustand der Betroffenen nach längerer Betreuung