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4. K LINISCHE S OZIALE A RBEIT

4.3. Theoretischer Bezugsrahmen

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich intensiv mit den biologischen, psychischen und sozialen Dimensionen eines Individuums sowie mit möglichen Strategien und Ressourcen, zur Bewältigung von Krisen oder Belastungssituationen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit den bio-psycho-sozialen Zusammenhängen, Migrationskontexten sowie ressourcenorientierten Vorgehensweisen ist für den Forschungsbereich von Betroffenen des Frauenhandels von großer Bedeutung.

24 4.3.1. Bio-psycho-soziale Zusammenhänge

Laut gesundheitswissenschaftlichen Forschungen stellen die psycho-soziale Integration und soziale Unterstützung wesentliche Resilienzfaktoren zur Vermeidung von organischen und psychischen Erkrankungen dar. Um körperlich und psychisch gesund zu bleiben, sind Integration und Re-Integration in die soziale Umwelt und die Herstellung bzw.

Wiederherstellung des psychischen und sozialen Wohlbefindens von besonderer Bedeutung. Im World Health Report 2001 wird illustriert, dass die Trennung der biologischen von psychosozialen Aspekten die richtige Symptomatik und Diagnose der Entstehung, Therapie und Prävention von somatischen sowie psychischen Erkrankungen behindert. Demzufolge sind Krankheiten ein Ergebnis, das aus allen drei – biologischen, psychischen und sozialen – Dimensionen resultiert (vgl. Pauls 2013: 32f.)

Erste Forschung zur Ermittlung von Risikofaktoren unter der Berücksichtigung von sozialen und psychologischen Faktoren fand bereits in den 1950er Jahren statt. Diese Erforschung hatte zum Ziel, Risikofaktoren zu ermitteln, die die Entstehung und Aufrechterhaltung von Erkrankungen beeinflussen. Zu diesen Faktoren zählen u. a. die genetische Disposition, Krisenereignisse, ein niedriger sozioökonomischer Status oder toxische Verhaltensweisen.

Dieses Risikofaktorenmodell bildete die Basis für die Umsetzung von Versorgungsmaßnahmen, welche sich positiv auf das Gesundheitsverhalten auswirken können (vgl. ebd.: 97).

Beruhend auf dem Grundgedanken von Jungnitsch (1999), der davon ausging, dass sich biologisch-organische, psychische und soziale Dimensionen permanent in einer andauernden gegenseitigen Interaktion befinden, konzipierte Engel in den 1970er Jahren ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell, welches neben den körperlichen auch psychosoziale Faktoren umfasst. Demnach ist der Mensch nicht nur ein Teil umfassender Systeme, sondern stellt auch selbst ein System dar, das aus vielen Subsystemen besteht.

Engel parallelisiert die bio-psycho-sozialen Zusammenhänge mit einem medizinischen Exemplar, wobei die Schädigung des koronaren arteriellen Blutflusses durch die Unterbrechung der Sauerstoffversorgung und der Abbruch der Organisation eines Segmentes des Myokardiums zu Herzinfarkt führen kann. Ähnliche Resultate können sich ergeben, wenn die Kommunikation zwischen den eigenen Systemebenen sowie zwischen den einzelnen Subsystemen eines Organismus aus somatischen oder psychosozialen Gründen beeinträchtigt wird (vgl. ebd.: 98f.).

Der obige Parallelismus von Engel zeigt, dass die ungestörte Kommunikation zwischen den biologischen Prozessen und den psychosozialen Vorgängen einschließlich

25 gesellschaftlichen Lebensumständen wichtig sind, damit ein Mensch körperlich und psychisch gesund bleiben kann (vgl. Pauls et al. 2013: 38).

4.3.2. Das salutogenetische Modell nach Antonovsky

Das Modell der Salutogenese wurde von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt. Der Begriff „Salutogenese“ setzt sich aus dem lateinischen Wort „Salus“ (Glück, Heil, Wohlbefinden) und dem griechischen Wort „Genesis/Genese“ (Geburt, Entstehung, Ursprung) zusammen. Hierbei handelt es sich um ein Resilienzmodell, welches sich auf jene dynamischen Interaktionen bezieht, die die Genese und Aufrechterhaltung der Gesundheit ermöglichen (vgl. Pauls 2013: 102).

Laut Antonovsky ist ein Mensch nie generell krank, sondern hat in bestimmten Lebensphasen kranke Anteile (Beschwerden, Symptome), welche zu einem bestimmten Syndrom führen (vgl. ebd.: 89). Antonovsky (1979) stützte seine Annahmen auf epidemiologische Untersuchungen, in denen gezeigt werden konnte, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Industrieländern erkrankt ist. Sie sind somit nicht entweder gesund oder krank, sondern befinden sich vielmehr auf einem Kontinuum, bei dem sie sich je nach Stressoren, Umweltbedingungen und generalisierten Widerstandsressourcen entweder in die eine oder andere Richtung bewegen (vgl. ebd.: 103).

Antonovsky steht der pathogenen Betrachtungsweise entgegen und bringt das positiv formulierte Konzept der Salutogenese in den Vordergrund. Er fokussiert sich auf die Aufrechterhaltung der Gesundheit und die damit verbundenen Faktoren und nicht auf die pathogenen Ursachen. Seiner Hauptthese nach stellen Krankheitserscheinungen ein normales und nicht abweichendes Ereignis im menschlichen Leben dar. Durch seine Annahme des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums (vgl. Abbildung 6) kann man sich zwei Pole vorstellen, auf dem sich das Individuum entweder zum Gesundheitspol oder zum Krankheitspol bewegt. Laut Antonovsky stellt sich daher immer die Frage: wie nahe bzw.

weit ein Individuum von den jeweiligen Polen entfernt ist (vgl. ebd.: 102ff.).

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum nach Antonovsky

gesund krank

Abb. 6: Gesundheits-Krankheits-Kontinuum nach Antonovsky (Pauls 2013: 102ff.)

26 In seinem salutogenetischen Modell beschäftigt sich Antonovsky mit den Fragen, welche Faktoren zur Genesung und Aufrechterhaltung von Gesundheit beitragen und warum Menschen trotz enormen Belastungen gesund bleiben (vgl. ebd.: 103f.). Wesentliche Merkmale einer salutogenetischen Orientierung sind folgende:

− Menschen auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu verorten.

− Die komplette Geschichte samt der Krankheit eines Menschen anzusehen.

− Copingressourcen und Bewältigungsfähigkeiten zu suchen.

− Sich zu bemühen, gesundabhängige Strategien der Intension zu finden.

− Sich auf Ressourcen der negativen Entropie zu konzentrieren.

Vereinfachter ausgedrückt, richtet Salutogenese ihren Fokus auf die Faktoren, die die Entfaltung und Aufrechterhaltung von Gesundheit fördern (vgl. ebd.: 103f.).

Wesentlich für den Umgang mit Stress sind generalisierte Widerstandsressourcen. Dabei handelt es sich um Faktoren, die beeinflussen, in welche Richtung sich ein Mensch auf dem Gesundheit-Krankheits-Kontinuum bewegt und einen konstruktiven Umgang mit Stress ermögliche. Sie umfassen beispielsweise das körpereigene Immunsystem, das

„symbolische Kapital“ wie Intelligenz und Wissen, eine starke Ich-Identität, emotionale Sicherheit sowie kulturelle und religiöse Zugehörigkeit. Diese Ressourcen entwickeln sich in der familiären Sozialisation und der Partizipation an und Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sie können nicht per se wirksam werden. Dabei ist das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence - SOC) eine entscheidende Variable. Diese drückt aus, inwieweit man ein andauerndes und dynamisches Gefühl des Vertrauens und der Selbstwirksamkeit hat, um effizient mit Krisensituationen und belastenden Ereignissen umzugehen sowie benötigte Ressourcen einzusetzen (vgl. Mühlum, Pauls 2005: 26).

Nach Antonovsky beinhaltet das Kohärenzgefühl folgende Aspekte:

− Das Gefühl der Verstehbarkeit (sense of comprehensibility): Alltägliche Lebenssituationen sowohl aus der inneren als auch der äußeren Umwelt werden als erklärbar und vorhersehbar wahrgenommen.

− Das Gefühl der Handhabbarkeit (sense of manageability): Fähigkeit der realistischen Einschätzung eines Menschen über die Verfügbarkeit von Ressourcen, um Belastungssituationen zu bewältigen.

− Das Gefühl von Sinnhaftigkeit (sense of meaningfulness): Antonovsky betont diesen Aspekt, welcher das Ausmaß beschreibt, mit dem man seinem Leben Sinn geben und an sozialen Entscheidungen teilnehmen kann. Unerwartete Lebensereignisse, wie Todesfall, Gewalt, Verlust, können jederzeit auftreten. Der Sinn, den man solchen Ereignissen gibt, kann als motivierende Kraft funktionieren. Dazu dienen folgende

27 Beispielsfragen: Lohnt es sich, in ein Problem Energie zu investieren? Was bedeutet diese Herausforderung für mich? Kann ich davon etwas lernen? (vgl. Weiss 2005: 36).

Je stärker das Kohärenzgefühl eines Menschen ist, desto flexibler und anpassungsfähiger kann die Person auf Anforderungen reagieren. In dieser Weise ist die Person in der Lage, generalisierte Widerstandsressourcen aus ihrem „Werkzeugkasten“ auszuwählen, um belastende Ereignisse zu bewältigen und in Folge weniger krank zu werden. Die Kunst besteht demnach darin, für die jeweiligen Herausforderungen situationsadäquate Ressourcen auszuwählen und einzusetzen (vgl. ebd. 36).

4.3.3. Soziale Unterstützung

Die sozialen Bindungen von Menschen stellen einen wichtigen Faktor für die physische und psychische Gesundheit sowie für ihr allgemeines Wohlbefinden dar (vgl. ebd.: 42).

Soziale Unterstützung kann als ein „soziales Immunsystem“ bezeichnet werden.

Vorhandene soziale Unterstützung wirkt sich positiv auf die allgemeine gesundheitliche Situation einer Person aus (vgl. Pauls 2013: 85). Jeder Mensch reagiert anders auf Belastungen. Menschen, die zu vulnerablen Gruppen gehören, verfügen über geringe Schutzfaktoren und können bereits bei einfachen belastenden Ereignissen Überforderung empfinden oder in Krisen geraten (vgl. ebd.: 73).

Klient*innen der Klinischen Sozialen Arbeit sind in ihrem Alltagsleben mit verschiedenen Herausforderungen und Belastungen konfrontiert, die mit den Stärken und Schwächen ihres sozialen Netzwerkes und ihren eigenen Ressourcen wechselwirken. Die Unterstützung hat als Ziel, das Selbstvertrauen zu stärken sowie die Belastungen und die damit verbundenen Stressoren zu lindern bzw. zu lösen. Für die Bewältigung der jeweiligen Belastungen ist wichtig, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Interaktionen zwischen den Charakteristika sozialer Netzwerke, den potenziellen Kräften des Individuums und der subjektiven Belastungsbewältigung erkennbar zu machen. Klient*innen können soziale Unterstützung nur dann akzeptieren, wenn sie den Sinn darunter verstehen und dafür bereit sind. Dieses Verstehen stellt die Grundlage klinisch sozialarbeiterischer Interventionen dar. Zur Sozialen Unterstützung gehören i. d. R. alle Ressourcen, die sich für die Bewältigung von Anforderungen und Belastungssituationen unterschiedlichster Art als dienlich erweisen (vgl. Weiss 2005: 44). Exemplarisch werden hierzu einige Formen sozialer Unterstützung erwähnt, wie die emotionelle, instrumentelle, informationelle Unterstützung, die Bewertungs- und Einschätzungsunterstützung sowie der positive soziale Kontakt (vgl. Ningel 2011: 62).

Professionelle soziale Unterstützungsinterventionen fußen auf der Grundidee, dass die Ursachen von Unterstützungsproblemen im sozialen Netzwerk der Klient*innen liegen.

28 Dazu gehören beispielsweise die Trennung von nahstehenden Personen, Entfernung von Freundschaftskreisen bzw. von weiteren sozialen Kontakten, Inkompetenz anderer wichtiger Personen. Ziel sozialer Unterstützung ist eigentlich den/die Klient*in sozial fähig zu machen, sodass er/sie mit den vorhandenen persönlichen Netzwerken umgehen oder neue Unterstützungssysteme herstellen bzw. annehmen kann (vgl. Pauls 2013: 316f.).

4.3.4. Ressourcenorientierung

Ob etwas als Ressource betrachtet wird oder nicht, hängt von den persönlichen Vorstellungen der Person ab. Dadurch lässt sich die Schwierigkeit, Ressourcen zu definieren erklären. Um Ressourcen wahrzunehmen, sind zwei Merkmale von großer Bedeutung: zum einen muss die Person die Ressourcen als hilfreich empfinden und zum anderen das Erleben von Ressourcen mit etwas Positiven verbinden (vgl. ebd.: 122).

Menschen sind im Laufe ihres Lebens andauernd mit verschiedenen Anforderungen (gesellschaftlich-kulturell, zwischenmenschliche, rechtliche etc.) und Belastungen (kritische Lebensereignisse, Lebenskrisen, intrapersonale Konflikte etc.) konfrontiert.

Damit das Individuum diese Anforderungen und Belastungen überwinden und ein befriedigendes Leben führen kann, braucht es Mittel, Merkmale bzw. Eigenschaften, welche von anderen Menschen (interpersonelle Hilfeleistungen) oder dem Umfeld (Institutionen, Kultur etc.) zur Verfügung gestellt oder vom Individuum (Denk- und Handlungsweisen) selbst entfaltet werden (vgl. Schubert 2012: 113).

Es kann zwischen potenziellen und aktivierten Ressourcen unterschieden werden. Die potenziellen Ressourcen umfassen alle Mittel, Objekte und Eigenschaften sowohl einer Person als auch in der Umwelt, die zur Bewältigung interner/externer Anforderungen herangezogen werden können. Werden potenzielle Ressourcen als brauchbar erkannt und bewusst eingesetzt, werden sie zu aktivierten Ressourcen (vgl. ebd.: 117).

Ressourcen können des Weiteren in persönliche und Umweltressourcen aufgegliedert werden.

Die persönlichen Ressourcen umfassen:

− Physische Ressourcen (Gesundheit, Attraktivität u. a.)

− Psychische Ressourcen (Selbstwertgefühl, Kohärenzgefühl, Persönlichkeitseigenschaften u. a.)

− Interaktionelle Ressourcen (Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Toleranz, Fähigkeit zum Balancieren von erhaltener Unterstützung und zur entsprechenden Kompensation in Freundschaften, Familie etc.)

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− Ökonomische Ressourcen (Einkommen, Eigentum u. a.) Die Umweltressourcen lauten wie folgt:

− Sozial nahe Beziehungsressourcen (Freundschafts-, Familienbeziehungen, Vertrauen, Anerkennung u. a.)

− Soziale Ressourcen (soziale Integrationsnetzwerke mit Gestaltungsmöglichkeiten, wie z. B. Arbeitsteam)

− Sozialökologische Ressourcen (Wohn-, Arbeitsplatzqualität) sowie sozialstaatliche und soziokulturelle Ressourcen (Zugang zu Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Institutionen, Teilnahme an kulturellen Angeboten u. a.) (vgl. ebd. 117f.).

Im Fokus ressourcenorientierter Arbeit steht das Reservoir persönlicher und kontextueller Ressourcen, ohne, dass Probleme, Hindernisse und Schwierigkeiten außer Acht gelassen werden. Sie werden zwar in der Beratung anerkannt und angesprochen, dennoch fokussiert die Arbeitsweise besonders auf die Stärken und Potenziale der Personen.

Folglich wirkt Ressourcenarbeit unterstützend und hilft betroffenen Personen, ihre Kapazitäten und Gestaltungsmöglichkeiten zu erfassen, um folglich belastende Ereignisse in ihrem Leben selbstständig meistern zu können (vgl. ebd.: 122).

Angelika Streich und Maria Lüttringhaus verweisen auf die Ressourcenkarte von Hobfoll (1988, 1989). Basierend auf einem Vierfelder-Koordinatensystem werden Ressourcen in vier Klassen geordnet:

− Objektressourcen: grundlegende Ressourcen wie z. B. Nahrung, Wohnraum, Kleidung und instrumentelle Ressourcen, wie z.B. Maschinen;

− Energieressourcen: ermöglichen den Zugang zu anderen Ressourcen, z. B. Zeit, Geld;

− Bedingungsressourcen: geschätzte und haltgebende Lebensbedingungen, z. B.

Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Gesundheit, Arbeitsplatz, wertgeschätzt und beliebt sein;

− Persönliche Ressourcen: Eigenschaften und Fähigkeiten, die zur Bewältigung von Anforderungen und der Zielerreichung dienen, z. B. soziale Kompetenzen, berufliche Fähigkeit, emotionale Stabilität (vgl. ebd.: 124).

Außerdem werden in einer Beratung diverse Gesprächstechniken verwendet, sodass Klient*innen Ressourcen aus verschiedenen Perspektiven interpretieren und betrachten können. Zudem gibt es weitere ressourcenaktivierende Instrumente, wie das Genogramm, Ecogramm und die Netzwerkkarte, welche das Vernetzungssystem visualisieren und der Wahrnehmung der sozialen Ressourcen von Klient*innen dienen (vgl. ebd.: 125).

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