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Danksagung

3. Zum Stellenwert Symbolischer Kompetenz in der Fremdsprachenlehr-/lern- und Evaluationsforschung

3.6 Grundkonzepte zur näheren Erläuterung der Symbolischen Kompetenz

3.6.4 Verkörperte Zeiträume

Eine weitere Frage, welche zur Erweiterung der Definition des Rahmens der symbolischen Kompetenz beiträgt, ist Folgende: Wann kommt sie von den Sprechern zum Ausdruck? Ist symbolische Kompetenz in jedem Moment einer Interaktion vorhanden oder tritt sie eher in Fällen von Misskommunikation auf, in denen die Sprecher gezwungen sind, Missverständnisse zu überwinden? Anschließend zur Frage, die den zeitlichen Raum der symbolischen Kompetenz bestimmt, lässt sich weiterhin die Frage stellen, ob symbolische Kompetenz nur in multikulturellen Gesprächssituationen oder auch in monokulturellen zu betrachten ist.

Die Entscheidungen des jeweiligen Diskursstils werden, wie „die jeglichen linguistischen Entscheidungen, durch die verschiedenen zeitlichen Räume der Erfahrungen bestimmt. [...] Die Bezüge zwischen den verschiedenen Zeiträumen (der verschiedenen Sprecher) unterstützen die unbemerkte symbolische Kraft [...]. Sie überschatten jene Aussage, die nicht verstanden werden kann, indem man sie nur aus der gegenwärtigen Perspektive betrachtet“158 (Kramsch/Whiteside 2008: 662). Die Diskussion über verkörperte Zeiträume steht im Mittelpunkt des ökologischen Ansatzes, da verkörperte Zeiträume ein Teil der Verhältnisse zwischen den Wahrnehmenden, den Affordanzen der Umwelt bzw. der Lebenswelte159 und den Ereignissen sind (siehe Kapitel 2.3). Mit „Räumen der Erfahrung“ deuten Kramsch/Whiteside (2008) auch auf die Beziehung zwischen Perzeption und Historizität hin (Kramsch 2010; Freadman 2014). Perzeption wird als „Raum der immerwährenden Inhalte, des Sinnes unserer Perzeptionen“160 (Chemero 2003: 181) betrachtet, zu denen wir durch die Erfahrung gelangen (Hume 1739-1740). Doch

158 „[…] choice of language […] draws on multiple timescales of experience. The connections between these different timescales bolster the invisible symbolic power […]. They cast a halo around (the speaker’s) words that cannot be captured by looking only at the utterances produced in the present“

(Kramsch/Whiteside 2008: 662) (übers. von E. V.).

159 Lebenswelt ist hier als die subjektive Realität der jeweiligen Person zu verstehen.

160 „... the location of perpetual content, the meaning of our perceptions“ (Chemero 2003: 181) (übers.

von E. V.).

82 besonders in multikulturellen Umfeldern steht unser Erfahrungshorizont dem Fremden unter Stress gegenüber, da die Narrativen, die wir in Kraft setzen, die Residuen unserer Vergangenheit widerspiegeln. Und unsere Aussagen, die dadurch herausspringen, sind zeitlich und räumlich belastet. Marx (1852) deutet auf diese Beziehung hin: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. […] Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen“ (Marx 1852: 115).

Verkörperte Zeiträume als Räume der Erfahrung üben ihren Einfluss nicht nur auf multilinguale sondern auch auf monolinguale Interaktionen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass symbolische Kompetenz eine co-konstruierte, interdiskursive Variable ist, die also in Diskursen, ob multi- oder monolingual, erscheinen kann.

Unterschiedliche Diskurspraktiken und -kapazitäten unter Sprechern desselben linguistischen Kodes setzen keine gemeinsamen kulturellen Hintergründe sowie sozialen Realitäten voraus. In diesen Fällen ist es aber leichter, mithilfe des Kodes einen gemeinsamen Punkt in der Interaktion zu erreichen, während dies in multilingualen Umfeldern selten passiert. Obwohl Marx multilinguale Interaktionen nicht im Sinn hatte, brachte er folgende Feststellung ins Licht: Der Vergangenheit ewiger Charakter prägt die Momentanität der Gegenwart; so ist der Versuch der Sprecher, die momentanen Aussagen ihrer Gesprächspartner isoliert von zeiträumlichen Parametern zu interpretieren, zum Scheitern verurteilt. Die Marxsche Erklärung des circulus vitiosus der Entwicklung zeiträumig unbelasteter Identitäten schneidet folgende Aspekte der Problematik an, die mit der Frage nach der zeiträumlichen Ökologie der Erscheinung symbolischer Kompetenz zu tun haben:

Unter welchen zeiträumlichen Umständen ist die Rekonstruktion der Realität in multikulturellen Milieus erforderlich? Personen kümmern sich zwar um das

„Umwälzen“ ihrer Identität und ihrer Umstände, doch in Zeiten sozialen Wandels, wie unsere globalisierten Zeiten, greifen sie auf habituelle Parolen zurück. In welchem entscheidenden Zeitpunkt einer Interaktion kommt jener Sprecher zur

83 Entscheidung, mithilfe seiner symbolischen Kompetenz ethnographische bzw.

ethnopsychologische u.a. Grenzen zu überschreiten? In dem Moment, in welchem der Sprecher wahrnimmt, dass er durch die Realitätsrekonstruktion auf der symbolischen Ebene, seine eigene Subjektpositionierung neu definiert, seine eigene Identität neu erfindet, und dabei mit den Interaktionspartnern gemeinsame Konstrukte über die Welt schafft. So wie das Konzept Heimat, was u.a. die Gefühle der Kontinuität und der Gewohnheit repräsentiert, in einer globalisierten heterogenen Gesellschaft (Βηδενμάιερ 2015, Βηδενμάιερ/ Βώβου 2013) neu gedacht werden sollte, damit die Kontinuität rekonstruiert wird und dadurch bewahrt werden kann, sollen auch die Bezugssubjekte der Heimat161, die im multikulturellen Diskurs immer wechselnde zeiträumliche Kontinuität bewahren, neu überdacht werden. „Stammland und Tradition wird jetzt eine neue Bedeutung verliehen, da sie im noch fundamentaleren Wandel der unterliegenden konzeptuellen Matrizen von Raum und Zeit eingraviert sind“ (Poulantzas 1978/2000: 97).

Bildungssituationen bieten heutzutage, besonders in westlichen Gesellschaften, einen fruchtbaren Boden für die Verhandlung von Identitäten und die Überschreitung von Grenzen an. In diesem institutionellen Rahmen wird Multikulturalismus zur normativen Praxis, zur offiziellen Staatsrichtlinie. Fremdsprachliche Klassenräume sind genau diejenigen sozialen Räume, wo Spannungen am meisten auftreten, aufrecht erhalten oder aufgelöst werden, da man innerhalb fremdsprachlicher Klassenräume oft durch und über Kultur spricht. Es kann also ein Raum für kulturelle Auseinandersetzungen und heikle Balancen sein. Auf Grundlage des Interkulturellen Ansatzes wurden Fremdsprachenlehrer dazu aufgefordert, ihren SchülerInnen Elemente der Zielkultur beizubringen, und sogar auch Kulturfragmente interkulturell zu vergleichen. Doch in wenigen Fällen war dieser Vergleich kritisch und Fremdsprachenlerner wurden aufgefordert, kulturelle Elemente „so zu lernen, wie sie sind“, d.h. so wie sie im Kursbuch stehen. Die ständige Bevölkerungsverschiebung und die Einwanderung von Lernenden, die weder die einheimische Sprache noch die

161 „Bewahrung und Veränderung, Fortgang und Rückkehr sind elementare Bestandteile, sind Wesensinhalt von Heimat - ohne ‚das Andere‘ kann es keine Definition des ‚Einen‘ geben. So verliert auch eine Heimat, die statische und nicht wandel- und anpassungsfähig ist, ebenso wie eine solche, die das Weggehen und die Rückkehr nicht zulässt, ihre Funktion als Kompensationsraum und Repräsentationsort ihrer ‚Bezugssubjekte‘ - die BewohnerInnen“ (Sievers 2015: 60).

84 Zielsprache sprechen, prägen neue zeiträumliche Umstände. Zu dieser Situation tragen auch die neuesten pädagogischen Aufforderungen der Diversität und besonders der Inklusion bei. Um denen zu folgen, sollen jetzt alle Bezugssubjekte diese neuen zeiträumlichen Umstände sowie ihre Identitäten umwälzen.

Auf dieselbe Weise ist auch die Prüfungssituation bzw. der Prüfungsraum als Raum der Erfahrung zu betrachten, in dem Spannungen entstehen, so wie in Klassenräumen.

Obwohl die Teilnehmer bestimmte Rollen annehmen (Prüfer- und Kandidatenrolle), heißt das nicht, dass sie identitätsfrei bzw. -neutral an der Interaktion teilnehmen und dass sie außer Prüfer und Kandidat auch soziale Akteure sind, die mit bestimmten institutionellen Rahmen, unterschiedlichen Grenzen der Erfahrung, unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen und soziopolitischen Hintergründen in den Prüfungsraum kommen. Um der Validität willen herrscht die Tendenz, Prüfungssituationen als neutrale, kontrollierte Räume zu betrachten. Prüfungsräume als Räume der Erfahrung anzusehen, zielt darauf ab, das Eigene und das Fremde unter standardisierten Umgebungen zu erforschen. In weiteren Kapiteln werden fremdsprachliche mündliche Prüfungsinteraktionen aus ökolinguistischer Perspektive näher diskutiert.